Die documenta IX (1992) brach alle Rekorde. Für die Stadt wurde sie zum Fest, viele Kritiker empfanden sie als Zirkus. Die Ausstellung provozierte und faszinierte.
Gleichgültig konnte man nicht bleiben. Direkt in der Eingangshalle des Museums Fridericianum wurde man umfangen und umtost von der Video-Installation des Amerikaners Bruce Nauman mit den schmerzhaften Rufen eines Mannes, dessen Kopf gleich mehrfach auf den Wänden und Monitoren zu sehen war. Die militärisch kurzen Klagerufe verfolgten die Besucher bis in die nächsten Räume, auch dorthin, wo stille, auf sich selbst bezogene Arbeiten zu sehen waren.
Nachdem sich die documenten der Jahre 1982 und 1987 auf TeiIaspekte der jeweils aktuellen Kunst konzentriert hatten, ermöglichte 1992 der Belgier Jan Hoet einen Einblick in
den gesamten Kunstkosmos. Seine Ausstellung spiegelte die Breite und Fülle des Geschehens und verzichtete folglich auf die entsprechende Entschiedenheit.
Andererseits war die documenta IX sehr entschieden. Denn sie zeigte, wie sich die unterschiedlichsten Künstler in dem Bemühen trafen, den Utopieverlust erkennbar werden zu lassen. Neben der Installation von Nauman war die Arbeit des Deutschen Flatz sinnbildlich dafür. Flatz hatte Ledersäcke, so wie sie Boxer zum Training nutzen, derart dicht gehängt, daß die Besucher Mühe hatten hindurchzugehen, ohne anzustoßen.
Die documenta IX überraschte mit einer Vielzahl von Arbeiten, denen die Besucher kaum ausweichen konnten und die die Gefühle (zwischen Abwehr und Zuneigung) mobilisierten. Ilya Kabakovs Toilettenhaus gehörte ebenso dazu wie die an Kindheitsalpträume erinnernde Tonne von Louise Bourgois. Unmittelbar ins Herz des Publikums stieß Jonathan Borofskys Man walking to the sky vor, das sich in seiner Begeisterung für den Himmelsstürmer auch dadurch nicht beirren ließ, daß der Künstler diese Figur als eine zwischen Aufstieg und Absturz sah.
Der populäre Himmelsstürmer (der heute vor dem Kasseler Hauptbahnhof steht, und Mo Edogas ebenso reich bestaunte Arbeit am Signalturm der Hoffnung verführten viele dazu, die Ausstellung als eine Unterhaltungsschau abzutun. In Wahrheit barg die documenta aber nahezu alle Ausdrucksformen der Kunst. Ihre Schwäche lag möglicherweise in der Größe. Um die Achse des AOK-Treppenhauses am Friedrichsplatz hatte Hoet für seine Ausstellung eine Vielzahl von (neuen) Räumen erobert – darunter erstmals Teile des Ottoneums. Die dort gezeigten Arbeiten faszinierten genauso wie jene in der Neuen Galerie, weil sie Dialoge mit den Museumssammlungen in Gang setzten.
Das Publikum gab, so schien es, dem charismatischen Ausstellungsmacher recht: 609 000 zahlende Besucher kamen. Sie trugen dazu bei, daß der explodierende Etat (von 15,66 auf 21,06 Mio. Mark) am Ende gedeckt war. Mit dieser documenta begann auch ein neues Kapitel: Neben den provisorischen Aue-Pavillons erhielt die Kasseler Weltkunstschau ihren ersten festen Neubau – die documenta-Halle. Aber so geht es: Während Hoet sich für den Bau begeisterte, hat seine Nachfolgerin Catherine David den Bau nur mit Widerstreben angenommen.
documenta IX (1992): 190 Künstler. 609 000 zahlende Besucher. Etatansatz 15,66 Mio. Mark. Ausgaben: 21,066 Mio. Mark. Zuschüsse: 6,561 Mio. Mark, Erlöse 9,346 Mio. Mark, sonstige Einnahmen 5,157 Mio. Mark.
HNA 5. 2. 1997