Die Kunst und die Wirklichkeit

Harald Szeemanns documenta von 1972 ist zur Legende geworden. Sie war ursprünglich als riesige Besucherschule gedacht. „Besser sehen durch documenta 5“ hieß das Motto.

„Kunst ist überflüssig“ war auf einem Transparent hoch über dem Portikusgiebel des Kasseler Museum Fridericianum zu lesen. Die Veranstalter hätten wohl selbst eingesehen, welchen Unsinn sie da verzapft hatten, meinten diejenigen, für die das Ganze mit Kunst nichts mehr zu tun hatte. Dabei gehörte dieser Satz zu den vielen provozierenden Behauptungen, die der Fluxus-Künstler Ben Vautier im documenta-Sommer 1972 rund um die Ausstellungsorte Fridericianum und Neue Galerie in Weiß auf Schwarz platziert hatte.

Kunst ist überflüssig? Natürlich nicht. Schließlich ließ sich unten im Fridericianum Joseph Beuys während der gesamten documenta-Zeit tagtäglich auf geduldige Dispute mit den Besuchern ein, um für seine Idee einer direkten Demokratie durch Volksabstimmung zu werben. Und wie auf einer Kunstmesse hatte das Büro des Verhüllungskünstlers Christo einen Informationsstand aufgeschlagen; schräg gegenüber warb Klaus Staeck für seine politisch-kritische Grafik.

Die Aktionskünstler, die 1968 noch gegen den Geist der Kasseler Kunstschau protestiert hatten, waren nun zugelassen. Ja, ursprünglich hatte die documenta die traditionelle Ausstellungsform überwinden wollen und zu einem Ereignisfestival werden sollen, das sich über das Stadtgebiet erstreckte. Aber dieser Plan hatte aus organisatorischen und finanziellen Gründen aufgegeben werden müssen. Trotzdem erhielten die Konzept- und Aktionskünstler im großen Umfang Zugang zur Ausstellung. Das, was bei der documenta 6 unter dem Begriff „Performance“ zu einer eigenen Abteilung zusammengefaßt wurde, hatte 1972 einen ersten Auftritt: James Lee Byars machte sich selbst zum Zeichen, indem er im weißen Anzug in den Portikusgiebel des Fridericianums stieg; Vettor Pisani inszenierte eine Aktion gegen Faschismus und Folter, HA Schult ließ einen Soldaten eine „biokinetische Landschaft“ bewachen und Fritz Schwegler trug im Singsang poetische Lieder vor.

Die Ausstellung war in einem zentralen Teil zum Aktionsfeld geworden. War die Aktion vorbei, waren keine Kunstwerke zu sehen, sondern nur Relikte. Das war neu. Ebenso neu und sensationell war, daß diese Ausstellung nicht nur Kunst zeigte, sondern versuchte, einen Überblick über den gesamten Bilderkosmos zu geben: Kitsch, religiöse Kunst, Bildnerei der Geisteskranken, utopisches Design, politische Propaganda und Spiegel-Titel. Der Vorsatz aber, diese parallelen Bildwelten mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen der Kunst (inklusive Film) in ein System zu bringen, wurde nur in einem Katalogaufsatz umgesetzt. Die Ausstellung mußte sich mit Aneinanderreihung der Phänomene begnügen.

Für Verblüffung sorgte riesige Abteilung mit fotorealistischer Malerei in der Neuen Galerie, und wie begehbare Bilder wirkten einige der Installationen, die als „Individuelle Mythologien“ vorgestellt wurden. Die documenta 5 verhalf auch jenen Künstlern zum Durchbruch, die zu den den „Helden“ der Kunst werden sollten: Joseph Beuys, Bruce Nauman, Mario Merz, Richard Serra, Arnulf Rainer, Georg Baselitz und Jörg Immendorff zum Beispiel.

So heftig im Vorfeld und während der documenta Kritik an der Ausstellung war, so sehr verklärt wurde sie später. Für die Kasseler Kunstszene aber war sie mit ein schmerzlichen Prozeß verbunden: Die documenta war über die Stadt hinausgewachsen. Arnold Bode, der documenta-Vater, durfte im Team noch mitlaufen, die Planung und Ausgestaltung der Ausstellung hatten aber auswärtige Experten übernommen – allen voran der Schweizer Harald Szeemann in der neu geschaffenen Funktion eines Generalsekretärs, Bazon Brock und Jean-Christophe Ammann.

documenta 5 (1972): 180 Künstler nahmen mit Werken und Aktionen teil, dazu Objekte der Alltagskultur. 220 000 Besucher. Etat 3,48 Mio. Mark. Erlöse und Spenden 1,076 Mio Mark, Zuschüsse 2,1 Mio. Mark, Defizit bis zu 800 000 Mark.

HNA 22. 1. 1997

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