Der Amerikaner Walker Evans (1903 – 1975) gilt als einer der wichtigsten Fotografen dieses Jahrhunderts. Sein sachlicher Stil hat Schule gemacht. Die documenta X wird sich auf ihn berufen.
Bereits 1977 hatte die Kasse1er documenta Fotografien von Walker Evans präsentiert. Aber damals waren die Aufnahmen Teil einer breit angelegten Dokumentation der Fotografie-Geschichte gewesen. Die einzelnen Fotografen-Beiträge kommentierten sich gegenseitig. Walker Evans erschien als ein objektiver Dokumentarist, doch sein Verhältnis zur Kunst und zur Wechselbeziehung von Bild und Wirklichkeit blieb unter diesen Bedingungen weitgehend ungeklärt. Wenn in diesem Sommer in der documenta X erneut Fotografien von Walker Evans zu sehen sein werden, kann möglicherweise
deutlich werden, wie viel dieser Amerikaner zur Bestimmung und Gestaltung des Bildes in unserem Jahrhundert beigetragen hat.
Walker Evans wirkte vielleicht deshalb so wegweisend, weil er nicht über das Handwerkliche zur Fotografie gekommen war, sondern über sein Sprachen- und Literaturstudium, das ihn bis an die Sorbonne in Paris geführt hatte. Als 25jähriger hatte er sich für die Fotografie entschieden, und bereits als 30jähriger bekam er seine erste Ausstellung im New Yorker Museum of Art. Walker Evans hielt nicht viel von der um künstlerischen Ausdruck bemühten Fotografie, gleichwohl verstand er sich als Künstler.
Als Vorbild und Bruder im Geiste empfand Evans den Deutschen August Sander. Zwar inszenierte Sander seine Porträts, doch nur um sie möglichst genau mit den Attributen ihres Lebenszusammenhanges vorzustellen. Im Grunde war Sander der Fotograf einer neuen, empfindsamen Sachlichkeit.
Aus einer vergleichbaren Haltung heraus arbeitete Evans. Er ging meist frontal an seine Motive heran und sorgte für einen strengen und klaren Bildaufbau, der distanziert und emotionslos wirkt. Die meisten Fotos, etwa von Häusern, sind so gestaltet, als ginge es nur darum, das Objekt für sich selbst sprechen zu lassen. Das Motiv gibt die Linien vor, nicht der Fotograf. Mit dieser Technik prägte Walker Evans einen Stil, der von vielen Fotografen übernommen wurden. Die streng sachlichen Bildreihen von Hilla und Bernd Becher wären ohne ihn kaum denkbar.
Als in der zweiten Hälfte der 30er Jahre die USA unter einer schweren Wirtschaftsdepression litten, beauftragte die Farm Security Administration Fotografen, das Elend der Landbevölkerung zu dokumentieren. Walker Evans wirkte daran mit und stellte ganze Foto-Serien zusammen. Bei dieser Arbeit wandte er seine Prinzipien konsequent an: Die entstanden Bilder waren von entschiedener Klarheit und Schönheit. Sie verklärten aber nichts, sondern ließen die Verhältnisse, die Armut, Einfachheit und auch Würde, für sich selbst sprechen. Und indem sich der Fotograf jeden kommentierenden Eingriff versagte, entstanden Zeitdokumente von hoher Verbindlichkeit, die die Welt in ihren sozialen Bezügen einsehbar machen. Nicht Anklage war sein Thema, sondern Beschreibung. Evans war ein Fotograf der sich des Mediums, mit dem er arbeitete, bewußt war.
So dachte er über die Wirkung der Bilder nach und spielte mit ihnen – etwa indem er eine Bildwand mit Porträts in einem Fotostudio oder Wände mit Plakatbildern so fotografierte, daß die Bilder im Bild zum Sprechen gebracht wurden.
HNA 14. 2. 1997