Vor dem Bilderberg das Chaos

Die documenta 6 (1977) machte als Mediendocumenta Schlagzeilen. Sie war besser als ihr Ruf.
Vor allem bescherte sie hervorragende Überblikke und Einzelwerke.

Das unaufdringlichste, stillste und dabei längste Kunstwerk in Kassel ist ein Kind der documenta 6 – Der Vertikale Erdkilometer von Walter de Maria. Aber wochenlang gab es um ihn und seine Einbringung in die Erde die größte Aufregung. Noch lauter als der Lärm, den die Arbeiten unter dem Bohrturm verursachten, war das Protestgeschrei gegen das Projekt. Dabei war lange übersehen worden, daß es dem Amerikaner de Maria um den Erdkilometer ging und nicht bloß um ein 1000 Meter tiefes Loch.

Der Erdkilometer sowie Richard Serras 12 Meter hohe Skulptur „Terminal“ aus rostendem Stahl zogen den ganzen Unmut jener auf sich, die sowieso im Unfrieden mit der modernen Kunst lebten. Und die Tatsache, daß der sonst gepflegte Friedrichsplatz zeitweise einer chaotischen Baustelle glich, bestärkte sie.

Chaotisch waren überhaupt Planung und Auftakt der documenta verlaufen. Zum zweiten Mal hatte die Kasseler Ausstellung um ein Jahr verschoben werden müssen, weil die Arbeit am Konzept nicht rechtzeitig in die Gänge gekommen war. Nachdem Karl Ruhrberg und Wieland Schmied als Planer aufgegeben hatten, weil Arnold Bode und sein Kreis über den (organisatorisch überholten) documenta-Rat versuchten, eigene Ziele zu verfolgen, wurde erstmals in Manfred Schneckenburger (Köln) ein künstlerischer Leiter berufen. Der seinerseits versammelte Experten um sich, von denen einige später als Leiter der Abteilungen fungierten.

Schneckenburger und sein Konzept-Schreiber Lothar Romain wollten da einsetzen, wo die documenta 5 mit ihrer „Befragung der Realität“ aufgehört hatte beziehungsweise gescheitert war: Sie wollten die Gesamtheit der bildnerischen Medien in Beziehung zueinander setzen. Auch ihnen gelang das nicht. Im Gegenteil, das Denken in Techniken und Abteilungen stand ihrer Idee im Weg.

Gleichwohl bescherte die Ausstellung, die so umfassend und weitläufig war wie keine documenta vorher (Fridericianum, Orangerie, Neue Galerie und Aue), großartige Einblicke und Installationen: Erstmals präsentierte eine documenta umfassend Meisterwerke der Fotografie, außerdem Video-Kunst, Performance und Künstlerbücher; die Karlsaue ließ eine neue Dimension der landschaftsbezogenen Skulptur erleben; zum zweiten Mal wurde ein repräsentativer Überblick über Handzeichnungen gegeben; und das Fernsehen wurde zur Live-Ubertragung von Aktionen genutzt.

Es gab herrliche Künstlerräume – den gekachelten Gang mit einem illusionistischen Kachelbild an der
Kopfseite von Hans-Peter Reuter, das Transsibirien-Projekt von Jochen Gerz, den Zettel-Raum von Anna Oppermann und die „Stadt der Auseer“ von Anne und Patrick Poirier. Unvergessen ist auch die Honigpumpe, unter der Joseph Beuys seine Freie Internationale Universität (FIU) erprobte.

Die Ausstellung litt aber unter Ungereimtheiten: Die relative Eigenständigkeit der Abteilungsleiter führte zu Fehldispositionen und zu einem Kampf um Wände für Malerei und Fotografie, in den sogar Künstler und Galeristen eigenständig eingriffen und der bewirkte, daß Evelyn Weiss und Klaus Honnef nach der Eröffnung ihre Mitarbeit aufkündigten. Auch das Experiment, erstmals Bilder der offiziellen DDR-Maler mit der Westkunst zu konfrontieren, klappte nicht recht: Baselitz und Lüpertz zogen aus Protest ihre Bilder zurück, und die Gemälde von Sitte, Heisig, Tübke und Mattheuer bildeten in der unübersichtlichen Malerei-Abteilung eine exotische Insel.

Mit der documenta 6 ging die Ära Bode endgültig zu Ende. Bode, der noch mitwirken wollte, aber ausgespielt wurde, kämpfte zuletzt um seine Idee einer Ausstellung im Oktogon im Herkules, die eine Gegendocumenta geworden wäre. Er starb 76jährig – einen Tag nach Ende der documenta 6.

documenta 6 (1977): 1400 Werke von 492 Künstlern. 355 000 Besucher. Etat 4,807 Mio. Mark. Erlöse und Spenden: 2,435 Mio Mark, Zuschüsse von Stadt, Land, Bund 2,372 Mio. Mark.

HNA 24. 1. 1997

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