Einschnitte in die Architektur

Im Wechselbezug mit der Wirklichkeit entwickelte Gordon Matta-Clark (1945 – 1978) seine Arbeiten. Er war Zeichner im Raum und Fotograf. Die documenta X wird an
sein Werk erinnern.

Der amerikanische Künstler Gordon Matta-Clark ist nur 33 Jahre alt geworden. Aber das Werk, das er in den neun Jahren schuf, in denen er künstlerisch tätig war, entfaltete weitreichende Wirkungen. Der Sohn des Surrealisten Roberto Matta hatte nach der Literatur Architektur studiert und blieb zeitlebens ein architektonisch denkender Mensch.

Natürlich entwickelte er in seinem Atelier Zeichnungen, doch das Gros seiner Arbeiten entstand mitten in der realen Welt; Häuser, Industriezonen und Straßenareale vereinnahmte er als Gestaltungsmaterialien. Er setzte nicht an die Orte fertiggestellte Kunstobjekte, sondern entwickelte aus den Gegebenheiten seine Werke.

Gordon Matta-Clark gelang es auf diese Weise, architektonische und stadtgestalterische Strukturen bewußt zu machen. So kam er 1977 mit einem Bündel von Ideen zur documenta 6 nach Kassel. Ihm schwebte vor, in der Auseinandersetzung mit einer Industrieanlage eine „Raumzeichnung“ auszuführen. Beispielsweise dachte er daran, mit Hilfe von Kabeln zwischen drei Fabrikschornsteinen ein „industrielles Spinnengewebe“ zu spannen. Noch radikaler war eine andere Idee: Er wollte von einer der noch damals stehenden Henschelhallen einen Dachstuhl aus Stahl und Glas abheben und unbeschädigt an einen anderen Ort versetzen. Er realisierte dann zur documenta an einem Schornstein im Bereich der Salzmannfabrik eine „Jakobsleiter“.

In seinen Projekten verfolgte Matta-Clark zwei Ziele gleichzeitig. Zum einen beschäftigte ihn die Frage, wie geometrische Figuren (Kreise und Ellipsen) in den Raum zu übertragen seien. Zum anderen faszinierte ihn der Umgang mit Architektur beziehungsweise die Vernachlässigung der Baugestalt. Vor allem das Denken in geschlossenen Systemen störte ihn. Ein Haus wurde und wird normalerweise für sich gesehen, während das Umfeld außer Betracht bleibt.

Beide Ansätze konnte er miteinander verbinden, als er 1973 begann, leerstehende Häuser, deren Abriß oder Umbau geplant wurde, als plastisches Material zu nutzen: Er schnitt streng geometrische Figuren in die Wände und Böden und öffnete damit Durchblicke durch die verschiedenen Geschosse und nach außen. Ganze Häuser wurden zu Skulpturen, wobei ganz nebenbei auch die Baustrukturen in den Blick kamen. Gordon Matta-Clark stand mit dieser „destruktiven“ Methode nicht allein. Als Gegenstück zur aus fertigen Bildteilen zusammengesetzten Collage war in der Nachkriegszeit die Déollage, das Abrißbild entdeckt und gepflegt worden: Matta-Clarks Arbeiten schufen nicht nur Durchblicke durch gewöhnlich verschlossene Räume, sondern waren auch ein Gegenentwurf zur sonst üblichen Kunst am Bau. Während im Regelfall Künstler mit ihren Werken Wände schmücken, die Architekten erdacht haben, wurden nun die Wände durchschnitten und damit die Bauentwürfe in Frage gestellt.

Auch auf die Frage, wie Alltagsbaustile bewußt zu machen seien, wußte er eine Antwort. Er löste Fassadenteile aus Häusern heraus und platzierte sie in neutralen Räumen, in denen die Hauselemente zu unproportionierten Fremdkörpern wurden. Zwangsläufig waren die meisten von Matta-Clarks Arbeiten vergänglicher Natur. Irgendwann wurden die Hauseinschnitte durch Umbau oder Abriß beseitigt. Geblieben sind als Erinnerungen Fotografien. Diese Fotos aber hat der Künstler wiederum zu Objekten mit einer eigenen ästhetischen Qualität verarbeitet. Mal fügte er verschiedene Sichten zu einem Panoramabild zusammen, dann akzentuierte er Bildteile durch farbige Einfassungen oder ließ bruchstückhaft die Perforation des Films mit vergrößern und abziehen.

Seine Fototafeln verführen dazu, Gordon Matta-Clark als Fotografen einzustufen. Doch dieses Medium war nur eins von vielen, die er zu nutzen verstand. Er war ebenso Zeichner und Bildhauer, Performance-Künstler und Filmemacher.

HNA 21. 2. 1997

Schreibe einen Kommentar