Die Architektur und ihr Abbild

Zur Ausstellung Europäischer Architekturfotografiepreis 2009 im KAZ

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

als ich die Bitte erhielt, heute Abend über die Architektur und ihr Abbild zu sprechen, kamen mir faszinierende Fotos von aufregenden Neubauten in den Sinn, wie wir sie aus vielen Publikationen kennen. Es meldete sich bei mir allerdings auch ein Verdacht. Um den auszuräumen oder zu bekräftigen, suchte ich ein paar Fotobände und Bücher zur Architektur zusammen. Beispielsweise blätterte ich Wolfgang Pehnts verdienstvolles Standardwerk „Deutsche Architektur seit 1900“ durch.

Schon bald hatte sich der Verdacht bestätigt: Der reich und hervorragend illustrierte Band präsentiert in seinen Abbildungen zu 90 bis 95 Prozent eine menschenfreie Architektur – und zwar durch das gesamte vorige Jahrhundert hindurch. Die Bauten werden in den meisten Fällen – ganz im Sinne ihrer Schöpfer – idealtypisch vorgestellt, so als gelte es, Skulpturen in ihrer Reinheit und Unantastbarkeit zu zeigen. Auf diese Weise wird unbewusst der Eindruck erweckt, gebaute Architektur sei ästhetischer Selbstzweck, Menschen, die sie in Beschlag nehmen und nutzen, würden nur stören.

Wohlgemerkt, es geht in dieser Betrachtung weder um die Architektur selbst noch um die Unterstellung, sie vernachlässige die Funktionalität. Nein, es geht darum, wie uns die Zeugnisse zeitgenössischen Bauens optisch vermittelt werden: Wir blicken meist auf herausragende Solitäre, kühne Formerfindungen und glanzvolle Strukturen, die unbelebt und unbenutzt scheinen. Vor allem hat man Mühe, da ein Gefühl für die Maßstäblichkeit zu entwickeln, wo die menschlichen Gestalten fehlen.

Die Methode dieser vom Menschen abstrahierenden Fotografie hat eine lange Tradition. Auch Arnold Bode beispielsweise benutzte solche Fotos, als er in seiner ersten documenta Meisterwerke der Architektur vorstellte. Und falls wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen, dass wir oft in der Praxis nicht viel anders verfahren, wenn wir ein uns faszinierendes Bauwerk möglichst unverstellt ablichten wollen. Dann suchen wir eine Perspektive, aus der die störende Reihe parkender Autos oder zufällig durchs Bild laufende Passanten ausgeblendet werden.

Zu dieser Erfahrung gehört allerdings auch der Hinweis, dass die Touristen, die mit der Kamera unterwegs sind, fast gegenteilig verfahren: Für sie ist es eine Ehrensache, sich selbst oder ihre Reisebegleiter jeweils vor einer gebauten Sehenswürdigkeit fotografieren zu lassen, um zu dokumentieren, dass sie dort waren, und um sich die Attraktion dauerhaft anzueignen.

Aber noch etwas anderes spart die traditionelle Architekturfotografie normalerweise aus. Das ist das Umfeld: In welcher Beziehung steht das Gebäude zu Wegen und Straßen? Wie ist die Erreichbarkeit? Und wie präsentiert sich die Nachbarschaft? Ist der Bau wirklich ein Solitär? Wann schon geben Fotografien darüber Auskunft, wenn es gilt, einen vielversprechenden Neubau im Bild zu zeigen.

Nun gibt es allerdings in der rund 180jährigen Geschichte der Fotografie durchaus Beispiele dafür, dass Fotografen Gebäude und Häuserreihen als Lebensraum der dort wohnenden und tätigen Menschen begriffen und im Bilde festhielten. Da ging es allerdings nicht um die Baukunst, sondern um die Art und Weise, wie sich die Menschen in den Bauten einrichten. Ein prominentes Beispiel dafür ist der als Zeichner und Karikaturist berühmt gewordene Heinrich Zille, der vor rund 110 Jahren nicht nur die verschiedenen Quartiere Berlins porträtierte, sondern auch in Bildern festhielt, wie sich die Stadt an ihren Rändern verliert und zum Unort wird.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen andere Fotografen dazu – wie Gisèle Freund, Brassai oder Walker Evans, um nur einige zu nennen. Auch wenn es sich um Bilder der Armut und Trostlosigkeit handelte, gelang es diesen Fotografen meist, die Würde der dargestellten Menschen zu achten und zu bewahren.

Mittlerweile hat sich die Szene gewandelt. Das hat vor allem mit einem veränderten Verständnis der Fotografie und ihrer Aufwertung im Kunstbetrieb seit den 70er Jahren zu tun. Spätestens seit der documenta X (1997) wissen wir, dass in dieser Hinsicht wichtige Impulse aus der künstlerischen und dokumentarischen Fotografie kommen.

Trotzdem bleibt der Tatbestand, dass dann, wenn neue Architektur porträtiert wird, sie in der Fotografie meist als losgelöst und unnahbar erscheint, weil sie auf ihre reinen Formen, ihre ästhetische Qualität reduziert wird. Wie ist das zu erklären? Weil, und damit nehme ich einen Gedanken von Wilfried Dechau auf, die Archiktekturfotografie bei uns noch keine eigene Tradition hat, sich als eigene Schule innerhalb der Fotografie noch nicht durchgesetzt hat. Wohl gibt es ausgezeichnete Fotografen, die mit ihren Totalaufnahmen und Details auf einzigartige Weise die Formen eines Neubaus zum Sprechen und Klingen bringen können. Sie arbeiten in ihren Bildern pointiert das heraus, was die Architekten angelegt haben.

Diese Form der Architekturfotografie bleibt – bei aller unbestrittenen Qualität – parteiisch. Sie sucht nicht die Distanz, aus der nach dem Wechselverhältnis von Form und Funktion oder von Objekt und Umfeld gefragt wird. Das heißt: die Architekturfotografie als eigenständiges, kritisches Medium und als legitime Schwester der Architekturkritik muss noch entwickelt werden.

Wilfried Dechau ist derjenige, der das in die Hand genommen hat. Zwei Strategien hat er dazu entwickelt. Zum einen hat er den Europäischen Architekturfotografiepreis initiiert, der 2009 zum achten Mal vergeben wurde. Zum anderen ist Dechau Vorsitzender des Vereins „archikturbild“, der die Entwicklung der Architekturfotografie als eigenständige Kraft fördern helfen will.

Bereits der erste Wettbewerb zum Thema „Mensch und Architektur“ förderte überraschende aussagekräftige Fotos zu Tage, die deutlich werden ließen, wie anders Bauten wirken, wenn man ihre Darstellung auf die Perspektive der jugendlichen und erwachsenen Bewohner begrenzt. „Architektur im Kontext“, „Urbane Räume“, „Arbeitsplätze“ und „Mein Lieblingsplatz“ waren andere Wettbewerbsthemen. Schon die Aufgabenstellungen lassen erkennen, dass größere Zusammenhänge in den Blick genommen werden. Die Architektur wird damit wieder ins Leben zurückgeholt.

Nun kann bei der Betrachtung der Wettbewerbsergebnisse leicht der Eindruck entstehen, die Architektur als großer Entwurf werde in den eingereichten Arbeiten kaum registriert; eher werde die Alltags-Architektur diffamiert. Lucius Burckhardt, der große Sichtbarmacher, hat uns immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass wir bei der Wahrnehmung unserer Umwelt dazu neigen zu abstrahieren und etwa beim Blick auf ein prominentes Gebäude die umgebende Möblierung ausblenden. An diese Einsicht muss immer wieder erinnert werden. Da ist der Nachholbedarf groß, und von daher ist verständlich, dass sich viele Künstler erst mal mit den Rück- und Schattenseiten der gebauten Umwelt auseinandersetzen. Die verschiedenen Stränge der Architekturfotografie müssen noch verknüpft werden.

Erfreulich ist, dass etliche Wettbewerbsteilnehmer auch mit Humor und Ironie zu Werke gehen. Meine Hoffnung ist, dass es auch einer selbstbewusst operierenden Architekturfotografie gelingt, diese menschlichen und heiteren Seiten ins Spiel zu bringen. Die bildnerische Auseinandersetzung mit der Architektur kann gar nicht vielfältig genug sein.

Wilfried Dechau hat wiederholt den Mangel an Architekturkritik in der Medienwelt kritisiert. Viel geändert hat sich leider nichts. Noch ärger ist aber der Mangel an öffentlicher Präsenz der Bilder, die eine realistische Auseinandersetzung mit der Architektur suchen. Aber auch in dieser Hinsicht will es Dechau nicht beim bloßen Klagen belassen. Am 4. Mai eröffnet er in Stuttgart die Galerie F75, in der vornehmlich Architekturfotografen vorgestellt werden, die bei den Wettbewerben erfolgreich waren.

Zu diesem Neustart wünsche ich viel Erfolg.

Kassel 16. 3. 2010

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