Der Farbe Körper geben

Als sechsten Künstler der documenta X stellen wir den Brasilianer Hlio Oiticica (1937 – 1980) vor.
Sein Werk sprengte in ähnlicher Weise die konventionellen Grenzen wie das von Lygia Clark.

Die documenta 4 verkündete 1968 den Ausstieg aus dem Bild. Doch bereits sechs Jahre
zuvor hatte der brasilianische Künstler Hélio Oiticica über die „Malerei nach dem Tafelbild“ nachgedacht. Ihn beschäftigte zu der Zeit die Frage, wie er der Farbe Körper und Raum geben könne.

Ähnlich wie die 17 Jahre ältere Lygia Clark hatte Oiticica mit konkreter Malerei begonnen. Die Kompositionen, die er als 21jähriger schuf, waren systematische Farb- und Formuntersuchungen, wobei die geometrisch geordneten Teile wie bewegliche Plättchen wirkten. Doch schon bald kehrte Oiticica dem traditionellen Bild den Rücken: Er wollte die Malerei plastisch erweitern und erstellte zu dem Zweck Farbplatten, die er frei in den Raum hängte. Mal verdichteten sich die Farbplatten zu mehrteiligen Reliefs und Skulpturen, und mal umgrenzten die von der Decke hängenden Platten neue Räume.

Oiticica war ein umfassend kreativer Mensch, der sich nicht nur bildnerisch äußerte, sondern auch ein umfangreiches schriftstellerisches Werk entstehen ließ. Seine Bestrebungen, das flächige, fest eingegrenzte und unbewegte Bild zu überwinden, entsprangen einem umfassenden Denken. Er wollte Energiezentren und Erlebniswelten sichtbar machen und erprobte zu diesem Zweck immer neue Ausdrucksweisen. Dabei wirkte er ebenso pionierhaft wie zur gleichen Zeit in Europa die Künstler der Art povera (Kunst aus „armen“ Materialien): Er komponierte begehbare Räume aus farbigen Stoffen, entwarf Umhänge und Kostüme, mit deren Hilfe im Tanz bewegte Farbskulpturen erzeugt werden konnten und baute konstruktive Skulpturen, in deren mobile Elemente (Schubladen) er farbige Pulver und Erde füllte.

In dem Werk von Hélio Oiticica sind folglich die Übergänge von der Malerei zur Skulptur und von der Skulpur zur Installation und schließlich von der Installation zur Performance fließend gewesen. Immer entstand das eine aus dem anderen. So schuf er 1967 eine Installation „Tropicália“, die er unter anderem mit tropischen Pflanzen und lebenden Papageien ausstattete. Die Besucher bewegten sich barfuß durch ein Labyrinth, in dem sie mit ihren Füßen und Augen immer neue Stoffe und Lebenszusammenhänge erfuhren – Sand, Stroh, Wasser. Dies war nicht nur eine Arbeit zur Erweiterung der Sinneserfahrungen und der Kunst, sondern auch eine Auseinandersetzung mit den heimischen Lebensbedingungen, mit der Wirklichkeit und ihrem Kitsch.

Aus dem Blickwinkel Oiticicas war es nicht mehr Sache des Künstlers, Werke für die Dauer zu schaffen. Er sah vielmehr seine Aufgabe darin, schnell und spontan auf Entwicklungen und Ideen zu reagieren, den Erfahrungen einen flüchtigen Ausdruck zu verleihen und die Reaktionen zu dokumentieren.

Mag sein, daß Oiticica in seinem Denken und Handeln durch geprägt worden war, dass sein Vater als ein Theoretiker der Anarchisten gewirkt hatte. So war nicht die Ordnung Formen sein Ziel, sondern Absicht, dem Chaos und den sich verändernden Energie Gesta1t zu geben. Oiticica hat auf diese Weise nahezu alle Möglichkeiten der Kunst durchschritten.

HNA 28. 2. 1997

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