1972 war Gerhard Richter (Jahrgang 1932) erstmals in der documenta vertreten. Mit jeder weiteren wuchs seine Bedeutung. Die documenta X ermöglicht einen Blick in seine Werkstatt.
Zur documenta 5 (1972) war Gerhard Richter mit seinen Bildern in die Realismus-Abteilung eingeladen worden. Er zeigte dementsprechend eine Serie von acht Schwarz-Weiß-Bildern (Lernschwestern). Doch weit aufregender war sein anderer Beitrag: abstrakte Farbtafeln, die an durcheinandergewirbelte Mustertafeln erinnerten.
Hatte Richter mit diesen Farbtafeln einen Sinneswandel vollzogen oder war er seiner gegenständlichen Malerei überdrüssig? Nein, er hatte nur eine andere Seite der Wirklichkeit herangezogen. Denn auch die Tafeln mit den rechteckigen Farbfeldern bilden Realität ab – nur in einer anderen Weise, als wir es uns normalerweise vorstellen.
Gerhard Richter ist kein Künstler, der (schalkhaft) das Kostüm und die Handschrift wechselt. Er ist vielmehr ein Maler, der so intensiv und umfassend wie kein zweiter malend über Malerei, über Bilder und deren Verhältnis zur Wirklichkeit nachdenkt. Im Laufe der Jahre hat er nahezu alle denkbaren Bilder erprobt – Porträts und Landschaften, fotografischen Realismus und verschwommene Weltsicht, abstrakte Kompositionen und systematische Farbuntersuchungen.
Dabei entwickelte er innerhalb der Serien durchaus Stile und Handschriften. Indem er aber wie bei den vorigen beiden documenten Fotorealistisches und Abstraktes parallel präsentierte, führte er die Gleichwertigkeit der Weltsichten vor. Richter ist ein konzeptuell arbeitender Maler, der
vielen seiner Kollegen um Längen voraus ist, weil er als Bildmöglichkeit schon erprobt hat,
was diese zuweilen noch versuchen. Wie kein zweiter hat er die Aussagekraft des Bildes, das der Wirklichkeit entliehen ist, untersucht.
Gerhard Richter hat für sich und andere Rechenschaft darüber angelegt, indem er seit Mitte der 60er Jahre systematisch die Bilder (vornehmlich Fotos) sammelte und zu Tafeln zusammenstellte, die er als Vorlagen benutzte oder hätte nutzen können: Fotos aus Zeitungen und Illustrierten, Privatbilder und planmäßig erarbeitete Aufnahmen von Landschaften (Seestücke, Gebirge und Details aus Malerei). Atlas nennt Richter diesen Fundus, der aus 600 Tafeln besteht und Einblick in sein Sehen, Denken und Arbeiten gibt. Ein Bilderkosmos. Zur documenta X wird er erstmals Europa umfassend zugänglich gemacht.
HNA 5. 3. 1997