Das fünfte Porträt unserer Serie, in der wir Künstler der documenta X vorstellen, ist der Brasilianerin Lygia Clark (1920 – 1988) gewidmet, die hierzulande kaum bekannt ist.
Aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Probleme werden die Staaten Lateinamerikas oft leichthin den Entwicklungsländern zugerechnet. Dementsprechend wird dann die dortige Kunst gern als exotisch eingestuft. In Wahrheit haben in den vergangenen 50 Jahren zahlreiche südamerikanische Künstler die internationale Avantgarde mit voran gebracht. Frida Kahlo, Roberto Matta, Wifredo Lam, Joaquin Torres-Garcia, Carlos Cruz-Diez und Alfredo Jaar sind nur einige der Künstler, die wichtige Impulse gaben.
Ihnen ist die Brasilianerin Lygia Clark zur Seite zu stellen. Sie ist in Europa nicht sehr bekannt,
obwohl sie zeitweise in Paris lebte und auch in der Biennale in Venedig wiederholt vertreten war. Ihr Werk ist einzigartig Es wurzelt in der Tradition der konstruktiven Moderne und explodierte dann förmlich und sprengt jeden konventionellen Rahmen.
Lygia Clark hatte mit abstrakt-konstruktiven Arbeiten begonnen. Schwarze, graue und weiße Flächen grenzte sie nach geometrischen Gesetzen voneinander ab und setzte sie in Spannung zueinander. Sehr schnell hatte sie dabei die reine Fläche überwunden und räumliche Perspektiven erzeugt. So lag es nahe, daß sie ihre Konstruktionen auffaltete und in Skulpturen umsetzte. Darüber hinaus entwickelte sie architektonische Visionen – Entwürfe für Großskulpturen, in denen sie das Spiel mit der Stabilität förmlich auf die Spitze trieb.
Aber nicht nur die geometrischen Konstruktionen faszinierten sie. Ebenso liebte sie die Auseinandersetzung mit dem Organischen und die Kombination beider Ausdruckswelten. So schuf sie Objekte, in denen sich das Technische mit dem Gewachsenen verband: In dem hier abgebildeten Objekt Kletterer ist um einen geheimnisvoll wirkenden Holzblock herum eine leicht und klar verlaufende Metallskulptur gebaut worden.
Diese Werke verfügen über eine zeitlose Strahlkraft. Aber Lygia Clark dachte über die einzelnen Objekte hinaus. Sie zielte – ähnlich wie zur gleichen Zeit Joseph Beuys – auf die umfassende Aktivierung der Kreativität. Die Betrachter der Kunst sollten ebenso schöpferisch wirken wie die Künstler selbst; und wenn, so ihre Vision, die Welt einmal von Kreativität erfüllt wäre, bedürfte sie der Kunst nicht mehr. Die Überwindung der Kunst war also gewissermaßen ihr Ziel.
Um die Besucher zu aktivieren, hatte sie 1968/69 eine Ausstellung in Essen mit Objekten bestückt, die alle Sinne herausforderten. Die Besucher sollten sich durch undurchschaubare Raumobjekte zwängen, sie sollten in Kostüme schlüpfen und sich eine Brille aufsetzen, deren Gläser innen verspiegelt waren, so daß man die eigenen Augen sah.
Diese Brille war so etwas wie ein Schlüssel zum Schaffen von Lygia Ciark: Die neuen Bilder sind da zu entdecken, wo man sie nicht vermutet. Die Künstlerin demonstrierte aber auch, daß sich in einzelnen Objekten die Form von selbst einstellen kann. So etwa in ihren organischen Gummiraupen, die für nichts standen als für sich selbst. Lygia Clark war ihrem Publikum immer weit voraus.
HNA 26. 2. 1997