Den Kanadier Jeff Wall (Jahrgang 1946) stellen wir als achten Künstler der documenta X vor.
Seine in Leuchtkästen präsentierten Großfotos haben neue Maßstäbe gesetzt.
Als im vorigen Jahr das Wolfsburger Kunstmuseum 18 Bilder von Jeff Wall zeigte, stellte Museumsdirektor Gijs van Tuyl die großformatigen Arbeiten als Malerei vor. Dabei handelt es sieh um Fotografien, genau genommen um Großdias, die in Leuchtkästen eingepaßt wurden.
Wieso ist dann von Malerei die Rede? Nun, die Bilder wirken erst einmal wie Gemälde, und sie gewinnen durch die Kastenrahmung eine starke räumliche Präsenz. Sie sind aber auch komponiert
wie Gemälde: Sorgfältig hat Jeff Wall die Motive ausgesucht, Stadtränder, Straßenszenen und Interieurs; und die Figuren, die die Szenen beleben und zur Bühne machen, sind wohl platziert. Doch mit der Inszenierung seiner scheinbaren Schnappschüsse begnügt sich Wall nicht. Also bearbeitet er sie noch am Computer, bevor er sie in oft extreme Querformate zwängt.
Die Fotos spiegeln eine Realität, die so nicht existiert. Da sich Wall aber Szenen ausdenkt, die möglich sein können, erzielen sie eine erstaunliche Wahrheitsnähe. Diese Ausschnitte aus dem Leben sind idealtypisch, das heißt so stark verdichtet, daß sie im Zweifelsfall treffsicherer als das dokumentarische Bild sind. Er illustriert, wie er selbst beschrieben hat, beispielsweise unsere Vorstellung von Landschaftsbildern.
Jeff Wall hat als Maler und Konzept-Künstler begonnen. Sein Denken und seine Arbeitsweisen sind nach wie vor konzeptuell. Dabei ist jedes seiner Großdias nicht nur die Darstellung von etwas, sondern auch ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Form und Funktion des Bildes. Seine leuchtenden Großaufnahmen erzählen von heroischen Landschaften. Wer unmittelbar vor einem dieser Bilder steht, läuft Gefahr, sich in den Panoramen zu verlieren. Doch die ruhige Weite und die stolze Größe der Landschaft brechen in sich zusammen, wenn man genauer hinschaut: Unter der Weite des herrlichen Himmels entfaltet sich im schönen Licht eine in Grunde nichtssagende und unförmige Vor- oder Hinterstadtszenerie. Das Grandiose entpuppt sich als das Gewöhnliche.
Jeff Wall ist einer der Künst1er, die mit ihren Arbeiten Catherine David für die kommende documenta einen thematischen Bezug geliefert haben. Viele Menschen leben rund um die Welt in den Stadtrandzonen und Vorstädten, die im Grundegesichtslos sind, aber unser Leben prägen. Die Auseinandersetzung mit dieser Welt bringt beiläufig scheinende, aber in Wahrheit explosive Werke hervor.
HNA 7. 3. 1997