Das Zerbrechen der Gesellschaft

Der Amerikaner Charles Burnett (Jahrgang 1944) produziert für die Kasseler documenta X einen Dokumentar-Spielfilm, in dem es um das Auseinanderbrechen der Gesellschaft geht.

Bei der Auswahl der künstlerischen Beiträge für die documenta X hat das Leitungsteam unter Catherine David zwei Stoßrichtungen. Die eine ist eher ästhetischer Natur: Es soll gezeigt werden, mit welchen bildnerischen Mitteln heute Künstler arbeiten und wie sich möglicherweise Formen und
Funktionen der Bilder in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten geändert haben. Die andere ist stärker gesellschaftlicher Natur: Indem die documenta X eine Bestandsaufnahme der kulturellen Situation am Ende des Jahrhunderts versucht, spiegelt sie auch die kulturell-sozialen Widersprüche, die Randzonen der Metropolen und damit die Konfliktfelder der Gesellschaft.

Der aus Vicksburg (Mississippi) stammende und in Los Angeles lebende Charles Burnett hat Anfang der 70er Jahre Film an der University of California studiert. Seit jener Zeit drehte er mit großer Beständigkeit. Der Dokumentar-Spielfilm „Am Ende“ (The final insult), den er für die documenta
herstellt, führt mitten hinein in die Widersprüche und Konflikte der heutigen Großstadtwelt. Als Schauplatz hat Burnett die Stadt gewählt, in der er seit langem wohnt und in der die Gegensätze besonders kraß sind – Los Angeles. Auf der einen Seite glänzen die protzigen Geschäftshäuser und Villen der Reichen, auf der anderen wächst die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben müssen und die sich zu Banden zusammenrotten. Dabei ist es kein Zufall, daß der Wohlstand bei den Weißen angehäuft ist und daß die Schwarzen eher zu den Ausgestoßenen gehören.

Der Film erzählt von einem Mann, der mit dem seltsamen Namen Box Brown (Brauner Pappkarton) durch das Leben läuft. Den Namen hatte ihm seine Mutter als ermutigendes Programm gegeben – in Erinnerung an die Geschichte eines Sklaven, der sich in einem lebensrettenden Karton aus den Südstaaten in den Norden Amerikas schicken ließ.

Box Brown scheint sein Leben zu meistern. Er ist kaufmännischer Angestellter und hat sein Auskommen, bis er eines Tages eine Steuernachzahlung leisten muß, die in um seinen gesamten Besitz bringt. Als einziges bleibt ihm sein Auto. In ihm fährt, wohnt und schläft er fortan. Obwohl er obdachlos geworden, hat er dem Auto immer noch eine Behausung, die ihm Freiheit und eine relative Sicherheit verschafft. Und Box Brown setzt alles daran, sich diesen Status zu erhalten, um nicht auf die Ebene herunterzurutschen, auf der die Obdachlosen nur noch einen Einkaufswagen ihr eigen nennen, in dem sie ihre Tüten aufbewahren.

Burnetts Geschichte ist bitter. Der unglückliche Held hat zwar noch einige Jobs, aber allmählich gerät er unter die Räder. Er, der auf gewaltsame Veränderung setzt, wird zusammengeschlagen und ausgeraubt und fällt schließlich in die Hände einer Kinderbande, die ihn und sein Auto quälen. Am Ende landet er genau da, wo er bestimmt nicht hinwollte, im Einkaufswagen.

Charles Burnett, der für Buch, Regie, Kamera, Schnitt und Produktion verantwortlich zeichnet, will aber keine resignative Anklage ins Kino bringen. Zwar ist seine Vision von der Zukunft der kaputten Stadt kein Phantasiegebilde, doch Burnett will Platz lassen für die ironische Befreiung aus dem Schreckensbild. So ist die Geschichte ironisch und humorvoll angelegt.

HNA 2. 4. 1997

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