Spiel mit den Orientierungszeichen

Bei der vorigen documenta hatte sich Matt Mullican (Jahrgang 1951) seinen eigenen Ausstellungsraum geschaffen. Jetzt baut er auf der „website“ der documenta X ein umfassendes Zeichensystem auf.

Der Amerikaner Matt Mullican gehört zu den Künstlern, die im ursprünglichen Sinne nichts erfinden. Er weiß, daß das Abbild der Welt nicht neu erschaffen werden muß. So sammelt er seit über 25 Jahren Orientierungszeichen, von denen wir umgeben sind – formelhafte Zeichnungen, wie sie im Lexikon zur Erläuterung von Begriffen zu finden sind, Piktogramme, die jenseits der Sprachbarrieren Wege weisen sollen, oder Farbsysteme, die Ordnung schaffen.

Zur documenta 9 (1992) hatte Mullican in der documenta-Halle mit Hilfe von Stellwänden eine eigene Ausstellung aufgebaut, die zuallererst durch ihre klar gestaffelten Farbwände faszinierte. In diesem abgeschlossenen Ausstellungskosmos stieß man auf eine Fülle unterschiedlicher Sammlungskomplexe. Fundstücke aus der Wirklichkeit ordneten sich zu Systemen, die Auskunft gaben über den Zustand unserer Welt und über die Versuche, das scheinbare Chaos der Bilder und Zeichen in Strukturen einzubinden.

Man bewegte sich dort – innerhalb der Kunst-Ausstellung – in einem künstlich scheinenden Raum, der allerdings genau das spiegelte, wovon wir umgeben sind. In einer Bilderreihe hatte Mullican beispielsweise nach dem Arbeitsschema von Architekten und Stadtplanern verschiedene Ansichten einer Siedlung dargestellt – ausgehend vom Blick auf Häuserreihen aus der Luft näherte er
sich den Gebäuden, bis er schließlich den Innenraum eines Hauses vorstellte. Diese Bildserie dokumentierte einerseits die Gleichförmigkeit und Unpersönlichkeit der Siedlungslandschaft. Auf der anderen Seite hatte Mullican die Darstellungen so angelegt, daß sich die Farbblöcke (etwa die weißen Giebelfelder der Häuser) zu losgelösten Zeichen verselbständigten. Diese Abstraktion wiederum verstärkte den Eindruck einer menschenfernen Welt.

Wie intensiv Muliican den Vorrat und die Funktion der Bilder untersucht, wurde in der Ausstellung sichtbar, mit der sich die Kunsthalle Fridericianum vorübergehend verabschiedete, um der documenta X Platz zu machen. Da waren die Wände eines Ausstellungsraumes zugepflastert mit altmodisch wirkenden technischen Zeichnungen. Mullican hatte die Zeichnungen in einer historischen Enzyklopädie gefunden, hatte sie sich mit Hilfe der Durchreibetechnik (Frottage) angeeignet und nun als eine neue Beschreibung einer vergangenen Welt ausgestellt. Die Bilder faszinierten durch ihre Exaktheit und Funktionalität, sie erhielten aber durch die Frottage-Spuren eine poetische Mehrdeutigkeit.

Schon jetzt können diejenigen, die über einen Zugang zum Internet verfügen, auf der „website“ der documenta X (http://www.documenta.de) Mullicans neues Projekt „up to 625“ kennenlernen. Die Arbeit befindet sich noch im Entwicklungsstadium. Von den insgesamt 625 Seiten kann man derzeit rund 30 studieren.

Daß Mullican zu dem documenta-Internet-Projekt eingeladen wurde, liegt nahe: Seit langem schon bearbeitet er seine Bildzeichen am Computer. So sind per Internet seine Arbeiten in dem Medium zu erleben, in dem sie entstanden sind. Im Vergleich zu vielem anderen, was in dem weltweiten virtuellen Raum zu finden ist, wirken Mullicans erste Seiten so ruhig wie die Bilder einer Ausstellung.

HNA 26. 3. 1997

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