Wenn die Fläche zum Raum wird

Michelangelo Pistoletto (Jahrgang 1933) ist Teil der documenta-Geschichte. 1968 waren seine Werke in Kassel erstmals vertreten. Catherine David ermöglicht ihm die vierte documenta-Teilnahme.

Zur vorigen documenta hatte der Italiener Michelangelo Pistoletto sein eigenes Ausstellungshaus gehabt – ein gegenüber dem Museum Fridericianum gelegenes Ladenlokal, in das er eine mehrteilige Installation eingebaut hatte: eine Couch, darüber eine Zeichnung an der Wand; ein gepflasteter Weg mitten durch den Raum, ein roher Tisch und ein Stuhl sowie ein Fernseher; und ganz hinten, in einem Kabinett, eine Etrusker-Statue vor einem Spiegel, der die Raumsituation verdoppelte und reproduzierte. Damit hatte Pistoletto die Pole seines Denkens sichtbar gemacht – die Auseinandersetzung mit der klassischen Tradition und der Antike sowie die Beschäftigung mit der aktuellen Gegenwart.

Jan Hoet hatte Michelangelo Pistoletto mit dem eigenen musealen Raum eine Sonderrolle zugewiesen. Der Italiener verfügte über sein geschlossenes Ausstellungssystem innerhalb der documenta. Doch genau die Geschlossenheit brach Pistoletto auf: Durch den Spiegel, der den Raum verdoppelte, öffnete sich die Fläche zum Raum und wurde zugleich die außenliegende Wirklichkeit mit in das Bild einbezogen. Selbst das gegenüberliegende Fridericianum wurde – als Symbol der Ausstellung – mit hineingeholt.

Pistoletto ist in den 60er und 70er Jahren vor allem durch seine Spiegelbilder international bekannt geworden. Er klebte lebensgroße Bilder von Figuren so auf blank polierte Stahlflächen, daß die Menschen entweder zum Betrachter blickten oder wie Bild-Darstellungen wirkten, die sich der Spiegelung entzogen. Diese Spiegelbilder entsprangen aber nicht nur den vordergründigen Effekten, wie sie man sie in der Pop- und Op-Art entdecken konnte, sondern verdankten ihre Entstehung einem revolutionären Erkenntnisprozeß.

In einem seiner zahlreichen Texte schrieb Pistoletto einmal: „1961 entstanden meine Selbstbildnisse auf goldenem, silbernem, bronzenem und hoch-glänzend schwarzem Grund. Einmal begann ich wie üblich, auf einer großen, bereits mit spiegelnder schwarzer Farbe bemalten Leinwand, den Kopf eines stehenden Mannes zu skizzieren. Da hielt ich schockiert inne, denn ich sah den Kopf mir entgegenkommen, indem er sich vom Hintergrund des Bildes löste, der damit aufhörte, ein Gemälde zu sein, sondern zur Wand des Raumes hinter mir wurde.“

Dieses Schlüsselerlebnis bestimmte fortan das Schaffen Pistolettos – nicht nur in der Weise, daß er in dem Spiegel das ideale Mittel zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entdeckte, sondern auch dadurch, daß sich ihm der Spiegel als die Bildform offenbarte, in der Raum und Zeit auf einer Fläche sichtbar macht werden können. Die ästhetische Erkenntnis war zugleich von politischer Sprengkraft: Pistoletto zielt darauf in einer Zeit, in der die Dinge und Verhältnisse auseinanderdriften, das Trennende wieder zu vereinen – Kunst und Architektur im städtischen Raum, technischer Fortschritt und soziale Zerrüttung, Denken und Handeln.

Seit 1994 arbeitet Pistole an einem vielteiligen Projekt („Progretto arte“), mit dessen Hilfe er in die Wirklichkeit einwirken will. Zur documenta X wird er mit zwei älteren Projekten vertreten sein: „Minus-Objekte“ und „Das Büro eines schwarzen Mannes“. Möglicherweise wird dabei in einer documenta erstmals zu sehen sein, wie umfassend und revolutionär der Ansatz seiner Arbeiten ist.

HNA 11. 4. 1997

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