Die Großstadt als Lebensraum

Seit gestern liegt Heft 3 der „documenta documents“ vor. In ihm geht es vornehmlich um die Lebensräume in großstädtischen Regionen.

Annäherung an die documenta X, die am 21. Juni in Kassel beginnt: Catherine David und ihr Team machen es dem interessierten Publikum nicht leicht. Anstrengung wird verlangt. Den einfachen Weg eine Künstlerliste oder ein Konzept zu veröffentlichen, hat die französische Ausstellungsmacherin desto entschiedener verweigert, je lautstärker von ihr die Vorlage verlangt wurde.

Sie wählte den ‚anderen Weg: In immer enger werdenden Kreisen umrundet sie das Feld, auf dem sich ihre Ausstellung ereignen wird, und erwartet von denen, die sie dabei begleiten wollen, intensive Mitarbeit. Sie sollen, wenn die documenta X zu sehen ist, nicht nur einzelne Werke betrachten und sie als ästhetisch gut oder ungeeignet einstufen. Vielmehr sollen sie an dem Denk- und Reflexionsprozeß teilhaben, aus dem die Werke hervorgegangen sind.

Wie die beiden vorigen Hefte sind die „documenta documents 3“ (Cantz Verlag, Stuttgart, ca.
100 S., 28 Mark) weder ein Vorwort noch ein Kurzführer zur kommenden Ausstellung. Das Heft bietet sich eher als ein umfassendes Diskussionsforum über das Thema an, das Catherine David von Anfang an als zentrales vorgestellt hat: Die Gleichzeitigkeit des schier unendlichen Wachstums der Großstadt und des Zerfalls städtischer Strukturen an den Rändern der Metropolen.

Nachdem Catherine David im vorigen Sommer in Kassel Irritationen durch ihre abfälligen Außerungen über die Stadt ausgelöst hatte, sind nun in dem Heft gleich drei Beiträge über Kassel zu finden, die der documenta-Stadt gerecht werden: Albert Pinkvohs nimmt eine nüchtern-kritische Bestandsaufnahme der Innenstadtstruktur vor, und Johannes Stüttgen sowie Rhea Thönges-Stringaris würdigen das Beuys-Projekt „7000 Eichen“, das nach Meinung von Thönges als Skulptur „noch gar nicht gesehen“ wird. „Im Nahbereich ausgeblendet“ hat die Autorin ihren Text überschrieben.

Eben um den Wechsel von Nah- und Fernsicht großstädtischer Formationen geht es in verschiedenen Beiträgen – etwa um das veränderte Bewußtsein nach der Verbreitung der Satellitenfotos oder um die Wandlung der alten neuen Hauptstadt Berlin. In diesem Zusammenhang wird auch Michelangelo Pistolettos Projekt vorgestellt, das eine Versöhnung zwischen Kunst und Architektur versucht.
Dieser von Christos Papoulias geschriebene Artikel „Stadträume“ führt zielgenau zur documenta hin. Denn die „Ogetti in meno“ (Minus-Objekte), von denen der Text handelt, werden Teil des documenta-Beitrags von Pistoletto sein.

Überhaupt findet man viele Spuren, die zur Ausstellung selbst hinführen. So stehen in dem Heft Notizen, die Abderrahmane Sissako und Raoul Peck zu ihren für die documenta gedrehten Filmen geschrieben haben.

Aber auch das gehört zum Konzept dieser Hefte – dass sie offen und rätselhaft bleiben. So gibt es im Schlußteil Bilderdoppelseiten, die Welt- und Stadtsichten der Künstler zeigen und damit ganz konkret documenta-Künstler vorstellen: Ulrike Grossarth, Gabriel Orozco, Jean-Marc Bustamente, Reinhard Mucha, Martin Walde und Jordan Crandall.

Das wohl gehütete Geheimnis wird ganz beiläufig stückchenweise gelüftet. Und eben diese Taktik macht die Hefte für ein breiteres Publikum schwer zugänglich.

HNA 3.4. 1997

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