Der Blick zurück auf sich selbst

Ähnlich wie bei Michelangelo Pistoletto ist für den Amerikaner Dan Graham (Jahrgang 1942)
der Spiegel das Mittel, um die Welt bildlich zu erfassen.

Zum fünften Mal wird der Amerikaner Dan Graham in der Kasseler documenta vertreten sein. Er zählt damit zu den Leitfiguren der zeitgenössischen Kunst. Seine Beiträge waren vielfältiger Natur
– er kam mit Performance- und Video-Beiträgen nach Kassel und zuletzt mit Objekt-Installationen. Seine Arbeiten wurden einer breiteren Öffentlichkeit bewußt, als er 1982 zur documenta 7
Spiegel-Pavillons in der Aue aufgestellt hatte. Diese Pavillons f ingen auf ihren
äußeren spiegelnden Wänden die Landschaft und die sich in ihr bewegenden Menschen ein. Und indem sie sich diese Landschaftsbilder zu eigen machten, schlossen sie sich nach außen ab. Für diejenigen aber, die in einen der beiden Pavillons hineingingen, „öffneten“ sich die Wände.

Als Künstler ist Dan Graham Autodidakt. Er studierte zwei Semester Philosophie und begann dann künstlerisch zu arbeiten. Er entwickelte Aktionen (Performances), begann mit Videos zu arbeiten und schuf Installationen, in die er Video- Projekte einbezog. Dabei ist er grundsätzlich am Verhältnis
des Menschen zum Raum als einer architektonischen Größe interessiert und an der Überwindung des Raumes. So tauchte in einigen seiner Arbeiten immer wieder eine ähnliche Fragestellung auf: Wie kann man aus festen Wänden eine räumliche Ordnung schaffen, die das Bild von innen und außen zusammenbringt?

Aus dieser Überlegung entwickelte Graham 1976 das Konzept für eine präzise Video- Installation in einer Ladenpassage: In zwei gegenüberliegenden Schaufenstern sollten Spiegel so angebracht werden, daß sie jeweils die Innenseite des Schaufensters und die Außenseite des gegenüberliegenden Fensters sowie die Passanten dazwischen einfangen konnten. In jedes Fenster sollte zudem ein Monitor gestellt werden – der eine mit dem Bildschirm zum Spiegel, der andere mit seinem „Gesicht“ zum Fenster.

Auch die beiden Kameras sollten im Wechsel so angebracht werden, daß die eine das Spiegelbild, die andere die Außensicht dokumentieren konnte. Die Passanten sollten nun in die mehrfach gespiegelte und reproduzierte Bildwelt der Wirklichkeit hineinblicken. Dabei wurde die Verfremdung noch dadurch verstärkt, daß auf dem einen Bildschirm die Situation live zu erleben war und auf dem anderen mit einer geringfügigen Verzögerung.

Dan Graham gelingt es auf diese Weise, mit relativ einfach scheinenden Installationen vielschichtige Wechselbeziehungen sichtbar zu werden lassen: Dabei schaffen die Spiegel die Möglichkeiten, das Subjekt als den Betrachter der Welt immer zugleich als Objekt und Teil der Wirklichkeit mit einzubeziehen. Der Blick des Menschen, der das Innen und Außen zusammenführt, fällt auf ihn selbst zurück. Es gibt kein Heraustreten aus dem Bild.

Für die documenta X wird Dan Graham das Projekt der oben beschriebenen Video-Installation von 1976 in der Treppenstraße realisieren. Außerdem wird er im Museum Fridericianum einen Video-Pavillon zeigen.

HNA 16. 4. 1997

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