Mit einer Performance auf dem Kasseler Friedrichsplatz bereitete gestern der Schweizer Christian Philipp Müller (Jahrgang 1957) seinen documenta-Beitrag vor.
Kurz bevor er zum Wehrdienst einrücken mußte, war Christian Philipp Müller 1977 zur documenta 6 erstmals in Kassel. Das, was er damals in Kassel erlebte, faszinierte ihn: Joseph Beuys diskutierte auf der Treppe zum Museum Fridericianum oder drinnen unter der Honigpumpe; und draußen erregten sich die Passanten über die Bohrarbeiten für Walter de Marias Skulptur Der Erdkilometer. Beide
Künstler fesseln ihn nach wie vor, zumal sie für die Pole stünden, zwischen denen sich die Kunst des 20. Jahrhunderts bewege: Beuys habe die soziale Dimension in die Kunst einbezogen und de Maria repräsentiere das Ästhetische.
Die beiden größten und wichtigsten documenta-Arbeiten von Beuys und de Maria sind auf Dauer angelegt und mit der Stadt und dem Friedrichsplatz eng verbunden. Der Erdkilometer ist in der Tiefe des Platzes versenkt, und zwei der 7000 Eichen wurzeln vor dem Fridericianum. Es sind die Kunstwerke, die die größte Herausforderung an die Stadt stellen. Und so hat Müller herauszufinden versucht, wie diese Großprojekte entstanden und finanziert wurden, welche Wirkung sie hervorgerufen haben und wie mit ihnen umgegangen wird. Das für ihn Auffälligste: Durch die Neugestaltung der Wegeachsen auf dem Friedrichsplatz sind sowohl der Erdkilometer als auch die beiden Beuys-Bäume von der Symmetrie-Struktur ins Abseits gerückt worden. Sie sind, für die Kunst vielleicht nicht schlecht, zu Störfaktoren der neuen Ordnung geworden.
Im Dachgeschoß des Fridericianums, in dem einzigen Raum, aus dem man zur documenta auf den Friedrichsplatz und diese beiden zentralen alten documenta-Werke sehen wird, will Müller seinen Beitrag den Arbeiten von Beuys und de Maria widmen.
Zentrales Ausstellungsstück wird eine sechs Meter lange Balancierstange sein, die zur einen Hälfte aus Messing (in Erinnerung an den Erdkilometer) und zur anderen Hälfte aus Eichenholz (zu Ehren des Beuys-Projektes) besteht. In der Stange werden beide Skulpturen vereint.
Gestern nun vollführte Müller (unter Anleitung des Akrobaten Heinz-Jürgen Weidner) einen realen Balanceakt mit Hilfe der Stange auf eine Drahtseil, das von dem einen Beuys-Baum zum Erdkilometer gelegt war. Müller, der gern in andere Rollen schlüpft agierte dabei auf drei Bedeutungsebenen.
Zum einen folgte er symbolisch Philippe Petit nach, der einen Hochseilakt zwischen den Türmen des World Trade Centers vollführte. Zum anderen vollzog er den erwähnten Balanceakt der Kunst der Moderne nach. Und schlleßlich machte er sichtbar, wie die Arbeit von Beuys und de Maria auf dem Friedrichsplatz aus der Achse gedrängt wurden. Die Performance mit dem Balanceakt wird in einem Video in Müllers documenta-Raum zu sehen sein.
HNA 15. 5. 1997