Auf Marcel Broodthaers verzichten?

Mit einem Eklat begann die Vorbesichtigung der documenta X: Die Tochter des Künstlers Marcel
Broodthaers (1924 – 1976) schloß dessen Adlermuseum im Fridericianum.

Zwar strahlte die Sonne, doch zogen über der documenta-Leitung gestern dunkle Wolken auf: Unmittelbar nach der Öffnung der Ausstellungstüren im Museum Fridericianum schritt Marie Puck, die Tochter des belgischen Künstlers, zur Tat und hängte an dem schwarzen Museumspavillon ihres Vaters die außenhängenden Bilder ab – äußerlich ruhig und gelassen, aber mit sichtbar unterdrückter Wut. Nachdem von den Außenwänden alle Bilder verschwunden waren, wurde der Eingang ins Innere mit Vorhängen verschlossen. Der Grund: Sie und ihre Familie, erklärte sie, hätten sich darauf verlassen, daß das Adlermuseum einen Raum für sich haben würde. Jetzt solle aber an der gegenüberliegenden Wand ein Bild von Alison und Peter Smithson hängen. Erst wenn dieses Bild andernorts seinen Platz finde, werde der Pavillon wieder geöffnet.

Der Vorgang muß die documenta-Leiterin hart getroffen haben, war doch Marcel Broodthaers, der ein fiktives Museum zum Thema Adler aufgebaut hatte, um so die Wirkung der Bilder und des Kunstbegriffs zur Diskussion zu stellen, für sie ein Schlüsselkünstler. Auf ihn hatte sie immer wieder Bezug genommen und mit Bedacht hatte sie für ihre Ausstellung genau die Arbeit ausgesucht, die schon einmal auf der documenta in Kassel gewesen war – nämlich eine kleine Ausgabe des Adlermuseums.

Schon im Vorfeld der Ausstellung muß es zwischen der Broodthaers-Witwe und der documenta-Leitung Streit um die Plazierung des Pavillons sowie die Größe der angrenzenden Wände gegeben haben. Aus der Sicht der documenta-Leitung war der Streit beigelegt. Eine Isolierung des Museums vom Ausstellungsumfeld sei nicht vorgesehen worden. Außerdem könne man nicht, so hieß es, ohne weiteres auf die geplanten Dialogsituationen verzichten.

Hinter den Kulissen bemühte man sich gestern, den Broodthaers-Beitrag zu retten. Eine Lösung zeichnete sich gestern abend aber noch nicht ab. Der Verlust der Broodthaers-Arbeit wäre für die Umsetzung des Konzepts groß. Die von Catherine David geplante Verbeugung vor der documenta 5 fiele ins Wasser.

Der Ausstellungsparcours mit seinen neuen Ausstellungsorten (vor allem im Bahnhofsbereich) wurde von zahlreichen Journalisten nicht erst einmal als Herausforderung begriffen, sich mit der Stadt auseinanderzusetzen, sondern wurde von einigen als lästige Lauf- und Suchübung verstanden. Überhaupt zeigte sich, daß die Bereitschaft, sich auf das Konzept und die inhaltlichen Ansatzpunkte der Arbeiten einzulassen, bei einigen gar nicht groß war. Auf der Suche nach neuer und spektakulärer Kunst stuften sie die documenta X beim ersten Rundgang als karg und sehr ästhetisch ein. Natürlich fällt zuallererst auf, daß die documenta, die mal als eine fast reine Malerei-Ausstellung begonnen hatte, die Malerei nahezu ganz ausspart. Es gibt nur wenige Beispiele und Spuren (etwa die Bilder von Kerry James Marshall in der Rotunde im 1. Stock des Fridericianums), die daran erinnern, daß Malerei eine Technik der Kunst war.

Es ist keineswegs so, wie oft unterstellt wurde, daß die documenta X zu einer theoretischen oder gar unsinnlichen Veranstaltung geraten wäre. Dies ist weder eine Lese- noch eine Theorie-Ausstellung. Aber im Vergleich zur vorausgegangenen documenta vollzieht sie einen Bruch: Sie klinkt sich aus dem Karussell jener Großausstellungen aus, die auf bewährte Namen und junge Kräfte setzen, möglichst alles abdecken wollen und dabei die Zukunft gewinnen wollen.

Wer sich ernsthaft mit der documenta X und ihren ausgestellten Werken auseinandersetzt, wird feststellen, daß sie einen Schnitt durch die jüngere Kunstgeschichte quer zu den bekannten Wegen versucht. Wir, die wir von Großausstellungen Bilder gewohnt sind, die man nur in Quadratmetern bemessen kann, tun uns also schwer, nun etwa auch Fotos wichtig zu nehmen, die von ihrer Größe her in ein Album passen würden.

Während die documenta 6 im Jahre 1977 mit ihrer großen Fotoabteilung dafür warb, die Fotografie gleichwertig mit der Malerei zu betrachten, setzt die documenta X den Kunst-Wert von Fotografie voraus. Also geht es nun darum, die einzelnen Bilder wahrzunehmen, zu lesen und zu verstehen.

Catherine David liegt die Auseinandersetzung mit der Bildsprache am Herzen. Genauso wichtig ist ihr die Frage nach den Inhalten: In welchem Verhältnis stehen Kunst und Gesellschaft, und wo werden die aktuellen Probleme ( der Urbanisierung) auf ästhetische Weise angegangen. Die Ausstellung bietet an den verschiedenen Orten sehr unterschiedliche Antworten. Aber es ist keineswegs so, daß das Fridericianum zu einem Haus der stillen Versenkung geworden wäre, das man mit raschen Schritten durchmessen kann.

Die Ausstellung ist (vor allem im Vergleich mit der Schau von 1992) deshalb schwer, weil sie nicht das Füllhorn ausschüttet und für jeden Geschmack irgendwo etwas bereithält. Die documenta X bezieht stärker und einseitiger Position und macht sich dadurch angreifbarer. Das Wegdrücken der Malerei ist tatsächlich ein Problem, an dem man zu knabbern hat – auch wenn man weiß, daß heute viele Künstler zuletzt an Farbe und Pinsel denken, wenn sie eine Idee bildnerisch umsetzen wollen.

Wer, wie gestern manche Fachbeobachter, die Ausstellung karg nennt, schaut nicht richtig hin. Sie bietet mehrere phantastische Räume und zeigt, daß einige Künstler bereits vor 20 und 30 Jahren Lösungen gefunden haben, die wir als neu und zukunftsweisend feiern. Die Ausstellung fordert heraus – auch die Antwort auf die Frage, ob man über schmalere Nebenwege zu den Perspektiven heutiger Kunst gelangen kann.

HNA 20. 6. 1997

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