Die Brüder Carsten und Olaf Nicolai gehen getrennte Wege, die sich immer wieder kreuzen. Für die documenta X arbeiten sie an unterschiedlichen Projekten.
Nur wenigen jungen DDR-Künstlern gelang es, unmittelbar nach der Wende im nationalen und internationalen Kunstbetrieb Fuß zu fassen. Zwei von ihnen waren die Brüder Olaf (Jahrgang 1962) und Carsten (Jahrgang 1965) Nicolai, die mit Hilfe der Leipziger Galerie Eigen + Art schnell Beachtung fanden. Beide sind, was die Kunst betrifft, Autodidakten. Olaf Nicolai studierte Germanistik und beschäftigte sich speziell mit dem Verhältnis von Sprache und Bild; Carsten Nicolai studierte Landschaftsarchitektur. Nahezu gleichzeitig hatten sie ihre ersten Ausstellungen. Viele Projekte betreiben sie getrennt, doch gelegentlich treffen sie sich zu Gemeinschaftsarbeiten
– wie etwa vor zwei Jahren im Göttinger Kunstverein, wo sie sich mit der Ausstellung Die Neuaufteilung der Welt vorstellten.
Den Kern der Göttinger Schau hatte eine großformatige Landkarte gebildet, die sich an Mercator, dem Pionier auf diesem Gebiet, orientierte. Nach Art der Welteroberer hatten die Nicolais auf der Karte neue Namen und Symbole eingetragen. Sie waren damit dem Ritus gefolgt, daß jeder Aneignung von Land die Umwidmung der Zeichen und Bezeichnungen folgte. In den anderen Räumen traf man dann auf Bilder und Fahnen, auf denen diese Namen und Symbole wieder auftauchten.
Carsten und Olaf Nicolai hatten die politischen Regeln der Machtaneignung aufgenommen und auf diese Weise der Welt eine neue Begriffs- und Bildsprache aufgezwungen. Das Gemeinschaftsprojekt
bestach deshalb, weil es geradezu spielerisch die Ausdrucksebenen wechselte – von der Sprache zum Zeichen und vom Bild zum Objekt. Aber es war nicht selbstbezogen – es vermittelte zwischen Natur und Welt, zwischen Macht und Ursprung.
Die beiden Brüder ergänzen sich gut. Und so gibt es Arbeiten, bei denen sie für die zwei Seiten der Kunst stehen – Olaf für die rational-analytische und Carsten für die emotional-gestische. Doch ihre Werke sind zu vielfältig und vielschichtig, als daß solche Eingruppierungen weiterhelfen könnten. Vor allem aber finden sie für jedes Projekt einen neuen Zugang zur Kunst und zu den Techniken. Von beiden gibt es äußerst poetische Zeichnungen und Malereien. Dabei setzt sich Carsten Nicolai häufig mit der Natur auseinander und untersucht etwa den Wechsel von der Dokumentation von Gräsern und Blättern zur malerischen Umsetzung. Olaf Nicolai durchmißt in seinen Bildern die ganze Entwicklung von der archaischen Urform zur komplexen, surrealen Komposition. Und selbst dann, wenn kein Bezug zur Sprache hergestellt ist, spürt man die gedankliche Verbindung vom Bild zum Wort.
Zur documenta X sind sie für getrennte Projekte eingeladen worden. Carsten Nicolai wird sich mit seinen Beiträgen außerhalb der geschlossenen Ausstellung bewegen. Er hat schwarz-weiße Zeichen (positiv und negativ) entworfen, die als Logos am documenta-Parcours eingesetzt werden sollen. Außerdem hat er Klang-Arbeiten entwickelt. Olaf Nicolai hingegen erhielt die Möglichkeit, einen der schönen Räume im Zwehrenturm für eine Installation zu nutzen.
HNA 28. 5. 1997