Catherine David: Man muß die Augen und den Kopf benutzen

Auf welchen Voraussetzungen basiert die documenta X? Wenige Tage vor der Eröffnung sprach Dirk Schwarze mit Catherine David.

Die documenta X findet auf verschiedenen Ebenen statt:
Ausstellung, Buch, Film, 100 Tage – 100 Gäste, Theater und Internet. War Ihnen bei Beginn der Planung bewußt, daß die Ursprungsidee für die erste documenta eine ähnliche
Zielrichtung hatte?

David: Nicht wirklich. Aber als wir begannen, an einem Filmprogramm zu arbeiten, erzählte man uns, daß zur ersten documenta Filme gezeigt werden sollten. Doch das Programm war nicht sehr
erfolgreich, da es nur wenigen bekannt war.

Warum entschieden Sie sich für die verschiedenen Kunst- und Vermittlungsformen? Weil Sie der Meinung sind, daß Kunst allein die Welt nicht spiegeln kann?

David: Die gegenwärtige Situation ist sehr komplex, und es gibt sehr viele verschiedene Ebenen, auf denen sich zeitgenössische Kultur äußert. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß die documenta eine sehr klassische Ausstellungsform ist und daher gar nicht dies Komplexität spiegeln kann. Wenn man also die Vielfalt berücksichtigen will, dann muß man auch die verschiedenen kulturellen
Praktiken einbeziehen.

Wenn diese Meinung richtig ist, dann müßte sich daraus auch Konsequenzen für die Strukturen der normalen Museen ergeben.

David: Natürlich. Einige Museen sind auch sehr offen. Viele aber haben sich in Orte des bloßen kulturellen Konsums verwandelt.

Wie reagierten die Künstler auf ihr Konzept?

David: Die Künstler denken nicht zuerst an das Konzept, sondern an ihre Werke. Insgesamt haben wir Künstler eingeladen, die offen und nicht akademisch arbeiten. Viele reagierten sehr gut und experimentierfreudig auf unsere Überlegungen. Aber jeder Künstler ist ein eigener Fall. Es ist etwas anderes, ob man mit Jeff Wall arbeitet oder einem jüngeren Künstler. Auf der anderen Seite entsteht das Konzept erst durch die verschiedenen Praktiken und Haltungen.

Im Heft 2 der „documenta documents“ haben Sie geschrieben, daß Information wieder ein Bestandteil der Kunst sei. Wie ist dann die Position der Kunst in Beziehung zu den anderen kulturellen Techniken zu sehen – ist sie im Zentrum oder an der Peripherie zu finden?

David: Es ist nicht die Frage von Zentrum und Peripherie, sondern eine andere Form des Ausdrucks. Es ist ein anderer ästhetischer Raum. Es ist der einzige Raum, in dem die Freiheit besteht, alles auszudrücken, was und wie man es will.

Haben Sie im Laufe Ihrer Arbeit an der documenta Erfahrungen gemacht, die Ihr Denken veränderten?

David: Natürlich. Wenn man ein wenig intelligent ist, wird man automatisch radikaler. Ich denke, ich bin aber noch geduldig geblieben.

Haben Sie alle Künstler und Werke für die Ausstellung bekommen, die sie haben wollten?

David: Ja – bis auf zwei oder drei Ausnahmen. Diese Leute haben nicht verstanden, was wir wollten. Sie wollten nicht an einem Projekt mit uns arbeiten.

Gab es also Schwierigkeiten mit einigen Künstlern?

David: Keine Schwierigkeiten, nur unterschiedliche Auffassungen. Das ist keine Biennale von Venedig, keine Ausstellung für die größten Objekte. Ich denke, einige Künstler werden besser in einer großen Biennale vorgestellt. Jeder kann da arbeiten, wo er es vorzieht. Aber das betrifft nur wenige.

Dieses ist die documenta mit der kleinsten Künstlerzahl in der Ausstellung…

David: Tatsächlich?

Ja, „nur“ “120 Künstler hatte bisher keine documenta. Aber Sie haben in etwa genauso viel
Raum zur Verfügung wie Jan Hoet im Jahre 1992. Haben die einzelnen Werke mehr Raum oder gibt es von den teilnehmenden Künstlern mehr Arbeiten?

David: Wir bemühen uns um eine gute Präsentation der Arbeiten und eine klare Orientierung. Die Besucher sollen wissen, wo sie sind, und sollen nicht verwirrt werden. Dazu brauchen wir den Raum. Es ist sehr wichtig, die einzelne Arbeit unter angemessenen Bedingungen zu zeigen. Die documenta ist schließlich keine Sammlung von Namen; es geht nicht um die 50 besten Künstler. Vielmehr geht es darum, Positionen zu zeigen, und nicht – wie eine Kunstmesse – nur Neues.

Verstehen die Besucher, die weder die Zeit noch die Geduld haben, das documenta-Buch zu lesen und an den Diskussionen von „100 Tage – 100 Gäste“ teilzunehmen, die Ausstellung?

David: Sicher. Das sind sehr unterschiedliche Ebenen. Einige Leute werden nur das Buch
lesen und gar nicht die Ausstellung sehen, andere werden nur die Ausstellung erleben. Wer also vor dem Ausstellungsbesuch das Buch nicht gelesen hat, ist nicht gehandikapt. Man muß nur die Augen und den Kopf benutzen, um die bildnerischen Äußerungen zu erleben und zu verstehen.

Die Reihe „100 Tage -100 Gäste“ erscheint wie eine Anknüpfung an die Diskussionen, die Joseph Beuys 1972 und 1977 auf der documenta während der 100 Tage führte.

David: Ich will einen Ort für Informationen schaffen, um den Besuchern einen Überblick über die kontroversen Positionen unserer Zeit – am Ende des Jahrhunderts – zu vermitteln. Schließlich gibt es viele Phänome, die nicht visuell darstellbar und erlebbar sind. Das hat nichts mit den Projekten von Beuys zu tun; das war eine andere Situation. Aber Beuys wäre für eine solche Reihe keine schlechte Referenz.

Die ersten documenten waren von der Malerei bestimmt. Sie haben in den „documenta documents“ geschrieben, das Tafelbild habe die Malerei überlebt. Werden also Tafelbilder zu sehen sein und keine Malerei?

David: Die Situation ist für viele schwer zu verstehen, denn die Malerei und das Tafelbild haben über Jahrhunderte das Denken geprägt. Und man kann die Arbeiten von Jeff Wall oder Richard Hamilton nicht ohne das Wissen darum verstehen. Das Tafelbild hat sich unabhängig von der Malerei gehalten und entwickelt. Die Fotografie benutzt es, und Godard ist sich bewußt, daß in einigen seiner Filme Szenarien die Form des Tafelbildes annehmen. Das Tafelbild ist zu einer Form der Erinnerung geworden, die sonst im Leben nicht möglich ist. Es hat nicht unbedingt etwas mit Malerei zu tun. Malerei bezieht sich auf ein bestimmtes Material, das Tafelbild hingegen meint eine weit verbreitete Form der kulturellen Äußerung.

Rudi Fuchs sprach 1982 von seinen wichtigsten Künstlern als „Helden“. Gibt es in der documenta X eine Hierarchie der Künstler und Werke?

David: Nein, ich bin viel mehr an Verzweigungen und Verflechtungen interessiert. Das Denken in Hierarchien ist naiv. Mich beschäftigt eher die Frage, wie sich bestimmte Haltungen und Praktiken durchsetzen, wie andere dadurch „kontaminiert“ werden.

HNA 21. 6. 1997

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