Die geistigen Landkarten

Der mit 15000 Mark dotierte Arnold-Bode-Preis der Stadt Kassel geht an die Israelin Penny Yassour, deren Beitrag zur vorigen documenta nachhaltig beeindruckt hatte. Der Preis, der an den documenta-Gründer Arnold Bode erinnert, wird im November übergeben.

Die documenta X (1997) erschien etlichen Besuchern als spröde. Der Eindruck war nur oberflächlich richtig, da sich viele aufregende Arbeiten erst beim zweiten, genaueren Hinsehen erschlossen. Das galt auch für den Raum von Penny Yassour (Jahrgang 1950) im Zwehrenturm. An der Wand hingen zwei große Silikonkautschuklappen, in die das Liniennetz der deutschen Eisenbahnen von 1938 gepreßt war – um 90 Grad gedreht und dann gespiegelt. Man blickte auf ein Doppelbild, das an zwei schnäbelnde, gerupfte Vögel erinnerte.

Doch diese spielerische Form wurde schnell von dem Bewußtsein verdrängt, daß die Karte der großdeutschen Eisenbahn auch Symbol ist für den systematischen Transport der Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Faszination der Arbeit von Penny Yassour lag darin, daß sie eindeutig war in ihrer Zielrichtung, in ihrer Annäherung an den Holocaust, daß sie aber auch Raum ließ für andere ästhetische Erfahrungen. Die geographische Karte erweiterte sich zu einer geistigen Landkarte, auf der viele Reisen möglich sind.

Diese Beobachtung traf auch auf die Bodenarbeit zu, ebenfalls ein Silikonkautschuklappen, in den eine Karte geprägt war, der so auf dem Boden lag, als würde sich darunter eine hockende Figur verbergen. Besser könnte man ein gesichtsloses, Schutz suchendes Opfer nicht verbildlichen. Penny Yassour gelingt es, mit nur geringem Aufwand komplexe Bilder in den Raum zu setzen.

HNA 20. 6. 1999

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