Neue Ausblicke auf die Kunst von heute

In 124 Tagen beginnt die documenta 7 (d7) in Kassel. Die nach wie vor wichtigste internationale Ausstellung zur zeitgenössischen Kunst soll mindestens 220 000 Besucher anlocken, noch besser aber die Rekordmarke der vorigen documenta (350 000 Besucher) erreichen – denn auch der Publikumserfolg wird im Kunstbetrieb längst wie ein Qualitatsmaßstab gehandhabt. In diesen Wochen jedoch lassen sich vielerorts Kunst-Propheten vernehmen, die das Zustandekommen der Ausstellung und deren Erfolgsaussichten in den schwärzesten Farben darstellen. Glaubte man allen Voraussagen, wäre sogar mit dem Ende der documenta-ldee zu rechnen. Die Gründe für diese Schwarzmalerei liegen auf der Hand: Über die Gliederung und inhaltliche Ausfüllung der documenta 7 ist sowenig an die Öffentlichkeit gedrungen, daß sich einige der Auguren als regelrecht hintergangen fühlen. Anstelle von Künstlerlisten und Abteilungstiteln erhielten sie von Rudi Fuchs, dem künstlerischen Leiter der d7, atmosphärische Schilderungen über das angemessene Zeigen von Kunst, statt eines schlüssigen Bildes gab es nur Skizzenansätze und Farbtupfer. Hier nun soll der Versuch unternommen werden, anhand der bisher bekannt gewordenen Absichten und Namen die Wesensmerkmale der kommenden documenta zu skizzieren.

Der Aufbruch der jungen Ma1er-Generation und ihre bereitwillige Förderung durch Ausstellungsmacher und Teile des Publikums hat die Kunstszene insgesamt in Bewegung und Aufregung versetzt. Und wenn in diesen Tagen Rudi Fuchs und sein Team die 150 bis 160 Namen umfassende Künstierliste endgültig abschließen, wird es vornehmlich um die Frage gehen, welche dieser vielberedeten jungen Künstler noch eingeladen werden sollen.

Das Wohl der documenta 7 wird nicht daran hängen, wenn die ausgewählten Beispiele zahlenmäßig in keinem Verhältnis zu der Breite der Bewegung stehen werden: eher hingegen das Wehe, falls man hier zu sehr einer Marktströmung erliegt. Längst aber ist sicher, daß Fuchs seinem vor zweieinhalb Jahren geäußerten Vorsatz, die Grenzen der Avantgarde 1982 prüfen zu wollen, treu bleibt und die Spitzen der jungen Szene berücksichtigt. Dazu gehören etwa der Schweizer Martin Disler, die Deutschen Felix Droese und Volker Tannert sowie der Amerikaner Jonathan Borofsky.

Der massive Einbruch der jungen, ironisch-heftigen und bisweilen durchaus konzeptuellen Kunst in den Markt öffnete nicht nur vielen neuen Talenten die Türen zu Ausstellungssälen, sondern bereitete auch den Boden für zahlreiche Wieder- bzw. verspätete Neuentdeckungen. Der Italiener Emilio Vedova mit seiner wilden, das herkömmliche Bildformat sprengenden Malerei ist ein Beispiel dafür. Seine Werke waren unter anderem 1964 in der documenta 3 zu sehen; doch auch eine documenta-Beteiligung garantiert keinen Dauererfolg — er wurde bei uns nahezu vergessen. Die documenta 7 wird ihn als eine der wichtigen Vater-Figuren aktueller Malerei vorführen.

Als Fuchs, der Direktor de Eindhovener Van Abbemuseums, im Sommer 1979 erstmals sein documenta-Konzept umriß, sprach er davon, die Ausstellung solle die Kunst unmittelbarer Aktualität spiegeln und gleichzeitig Künstler von langfristiger Aktualität in ein Spannungsverhältnis dazu stellen. Andererseits sprach er von der wachsenden Bedeutung europäischer Kunst sowie einer stärkeren Rückbesinnung auf die Malerei.

Die gesamte Kunst-Entwicklung seither spricht für die Richtigkeit. dieser Ausgangsposition; es scheint im Moment, als laufe alles auf dieses documenta-Konzept zu: Die italienischen, schweizer, deutschen und holländischen Künstler beherrschen nicht nur auf dem Kontinent die Szene, sondern haben sich auch im Kunst-Mekka New York nachdrücklich vorgestellt, die Malerei wird in einer solchen Breite bevorzugt und gepflegt, wie es vor noch drei Jahren undenkbar gewesen wäre; und die Wurzeln heutiger Kunst werden in ihrer weitreichenden Bedeutung erst allmählich richtig wahrgenommen.

Da sind beispielsweise Sigmar Polke, Arnulf Rainer, Günter Brus, Georg Baselitz. A. R. Penck und Jörg Immendorff. Sie alle waren bereits 1972 in der documenta 5 mit Beiträgen vertreten – als Einzelfiguren. Erst in jüngster Zeit ist durch Ausstellungen und Veröffentlichungen aufgezeigt worden, welche Impulse für die Kunst insgesamt von diesen Künstlern und deren Werken ausgehen. Die documenta 7 wird ihnen ebenso einen gewichtigen Platz zuweisen wie den Italienern und Amerikanern Mario Merz, Jannis Kounellis oder Bruce Nauman, die mit einer ganz neuen Vermittlung von Körperlichkeit, Stofflichkeit und inhaltlicher Aussage bei der raumbezogenen Gestaltung einer Arbeit hervorgetreten sind.

Verstand sich die documenta 5 (Generalsekretär: Harald Szeemann) als ein Führer durch die
Vielzahl klar abgegrenzter Bildwelten und war die documenta 6 (Künstlerischer Leiter: Manfred Schneckenburger) thematisch-analytisch als eine Medien-Schau angelegt, will die documenta 7 einfach ästhetisch sein – eine Ausstellung, die allein die gute Präsentation wichtiger (und damit vielleicht auch schöner) Bilder, Objekte und Installationen im Sinn hat.

Die Abwehr eines thematischen Überbaus bringt die Kunstwerke nicht in die Gefahr, nur Illustrationen zu Thesen zu werden. Auf der anderen Seite kommt der Verzicht auf ein klassische Abteilungsgliederung (Malerei, Plastik usw.) den Tendenzen in der heutigen Kunst entgegen:
Viele Künstler wechseln spontan die Ausdrucksmittel und lassen so die Grenzen zwischen Zeichnung, Malerei und Objekt fließend werden. Beispielsweise wird der Maler Jörg Immendorff zur documenta 7 erstmals eine Großplastik anfertigen.

Für Fuchs und sein Team ist als Ausgangsbasis die richtige und unbeeinträchtigte Hängung oder Aufstellung des Einzelwerkes wichtig. Zu oft und zu lange, so ihre These, sei über Namen und Stile diskutiert worden, ohne daß man sich wirklich Zeit für die Betrachtung der Kunstwerke selbst genommen habe. Die intensive Auseinandersetzung soll durch eine helle, klare (und wo es notwendig ist: neutralisierte) Ausstellungsarchitektur gefördert werden; dem gleichen Ziel dient der Versuch, in möglichst vielen Ausstellungsräumen mit dem Tageslicht auszukommen.

Die Zahl der teilnehmende Künstler wird mit rund 150 so niedrig wie lange nicht mehr bei einer documenta sein. Von den wenigen aber will Fuchs viele Arbeiten zeigen – etwa sieben bis zehn Werke von einem Künstler. Diese Arbeiten sollen, damit sie eine kultur- und kunsthistorische Situation spiegeln können, möglichst in den letzten beiden Jahren entstanden sein; manches wird sowieso eigens zur documenta angefertigt.

Nach der Auswahl und Motivierung der Künstler wird die eigentliche Leistung der documenta 7 in dem Aufbau ihrer inneren Struktur bestehen. Fuchs will nämlich in den einzelnen Räumen und Kabinetten der drei Ausstellungsorte Dialoge und Konfrontationen der künstlerischen Haltungen entstehen lassen. Kunstwerke ähnlich und unterschiedlich arbeitender Temperamente sollen zusammengebracht werden und zum Vergleich und zur besseren Erkenntnis verhelfen. Es soll also zum Prinzip gehören, daß die zehn Bilder eines Malers nicht in einem Kabinett konzentriert werden, sondern daß man auf jeweils zwei oder drei von ihnen an verschiedenen Punkten und in unterschiedlicher Gesellschaft trifft.

Die sorgfältige Inszenierung der documenta 7 ist also ein hohes Versprechen von Fuchs. Löst er es nicht oder unzureichend ein, werden auch die Kunstwerke und Künstler daran zu beißen haben. Doch nicht umsonst nannte Szeemann frühzeitig seinen Kollegen Fuchs einen „Kostbarmacher von Kunst“.

HNA 25. Februar 1982

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