Das Eigene, das zum Fremden wird

In einer Biographie wird Lothar Baumgarten als Fotograf vorgestellt. Er wird in der documenta X auch mit Fotografien vertreten sein. Trotzdem führt die Charakterisierung in die Irre. Eher könnte man Baumgarten als einen Ethnologen einstufen, der sich für das Verhältnis der Kulturen zueinander interessiert, der gedanklich den Spuren von Forschern in fremde Welten folgt und der in der näheren
Umgebung des eigenen Landes das sucht, was das Fremde ausmacht. Unter dem Titel „Der Ursprung der Nacht“ produzierte Lothar Baumgarten einen Film über den Amazonasdschungel. Allerdings entstanden in Wahrheit die Aufnahmen in den Wäldern am Rhein.

Nicht an der Täuschung war Baumgarten gelegen, sondern eher an dem Nachweis, wie nah das Entfernte sein kann. Andererseits reiste Baumgarten auch ganz real zu den indianischen Völkern in Südamerika, die von der westlichen Zivilisation unberührt sind, und lebte dort. Er machte sich mit dem Fremden vertraut und brachte Namen und Bilder mit, die jenseits der Forschung und des Tourismus freundschaftliche Annäherungen ebenso dokumentieren wie Erinnerungen an das Ursprüngliche.

Vor 15 Jahren hatte Baumgarten in der Rotunde des Fridericianums den indianischen Völkern Südamerikas ein Schrift-Monument gewidmet. 1992 gar verwandelte er die Spirale des New Yorker Guggenheim-Museums in ein Denkmal für alle Urvölker Amerikas. Im selben Jahr (zur documenta IX) schuf er auch das heitere Monumentalbild auf dem Kasseler Zwehrenturm (am Museum Fridericianum) bestehend aus Spie1kartensymbolen und Unwörtern des Zeitgeistes. Diese Arbeit zielte auf das andere Interesse Baumgartens – die kritische Auseinandersetzung mit unserer Kultur und Sprache, die die gleichen Wurzeln wie die Annäherung an das Fremde hat: Überall suchen und begegnen wir uns selbst.
HNA 21. 5. 1997

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