Von der Musik zum Kunstraum

Mike Kelley und Tony Oursler haben sehr eigenständige Werke entwickelt. Daß sie zeitweise zusammengearbeitet haben, dokumentiert ihr Gemeinschaftsprojekt für die documenta X.

Die Pop-Art gilt als eine Kunstrichtung der 50er und 60er Jahre und erscheint mittlerweile als historisch. Gleichwohl gibt es nach wie vor viele Künstler, die ihre Bildideen und Werkvorlagen vornehmlich oder ausschließlich dem Alltag entnehmen. Die beiden amerikanischen Künst1er Mike Kelley (Jahrgang 1954) und Tony Oursler (Jahrgang 1957) zählen dazu. Sie greifen die Vorgaben populärer Kultur auf, um diese dann in ihren Arbeiten kritisch zu spiegeln. Beide waren in der vorigen documenta mit höchst unterschiedlichen Werken vertreten. Kelley hatte alptraumhafte Objekte gebaut, die Erinnerungen an Isolationszellen und Folterbänke ebenso hervorriefen wie an medizinische Untersuchungstische. Und Ourslers Video-Installation begleitete die Besucher durch das Treppenhaus im Museum Fridericianum, wo sie zugleich zu Zuschauern und Beobachtungsobjekten gemacht wurden.

Daß beide eine gemeinsame Vergangenheit haben, war bei der vorigen documenta nicht zu erahnen. Jetzt aktivieren sie die Erinnerungen an jene Zeit und entwickeln daraus eine Koproduktion. Das entspricht ganz der Programmatik der documenta X, die Catherine David als eine Retroperspektive angelegt hat – der Blick nach vorn wird mit dem Blick zurück verbunden: Als Kunststudenten hatten sie 1977 in Kalifornien eine Punkrock-Band gegründet, die bis 1983 bestand. Damals musizierten sie und zeichneten auch zusammen. Auf der Grundlage des gemeinsamen Zeichenbuches wird nun eine Installation von Bildern entstehen, die den bildlichen Rahmen für die Erinnerungsarbeit schafft.

Zudem werden Objekte gezeigt, die damals konzipiert, aber erst jetzt realisiert wurden. Während in dem Raum als Hintergrundmusik Stücke der Punkrock-Band erklingen, werden Videos in den Raum projiziert, die von Kalifornien und Proben der Band berichten, die nachgestellte Performances dokumentieren und die Leute vorstellen, die sich an Auftritte der Punkrock-Band erinnern können.

Für den Zuschauer verflüchtigt sich die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion. Das, was als Erinnerungsmaterial hervorgeholt wird, ist ebenso gut (oder ausschließlich) aktuelles künstlerisches Produkt. Die Installation wird auf diese Weise zu einem exemplarischen Beispiel dafür, wie Geschichte aufgearbeitet und zugleich konstruiert und verklärt wird. Das, was in Medienwelt zum Tagesgeschäft gehört, wird hier intensiv genutzt und in Frage gestellt. Aber nicht nur die Geschichte der Band wird zu einem Gemisch aus Dokumentation und Fiktion, sondern auch das künstlerische Werk beider. Und eben dadurch gewinnt es greifbare Gestalt.

HNA 23. 5. 1997

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