Was ist und was nicht ist

Nach seiner Arbeit befragt, kommt der Amerikaner Richard Tuttle (Jahrgang 1941) ganz spontan auf die Stadt zu sprechen, in der er zu Besuch ist: Die Beziehung Kassels zur documenta müsse harmonischer werden; die Bevölkerung solle erkennen, daß der Weg zur Harmonie über die Kunst sehr viel leichter sei. Er selbst verstehe seine Kunst als ein sehr offenes Angebot.

Tuttles Einlassung auf diese Fragen ist naheliegend: Bei der documenta 5 (1972) hatte er für einen Raum des Fridericianums eine Drahtarbeit geschaffen, die eine zarte Kraftlinie, von der Wand ausgehend, im Raum zeichnete. Besucher fühlten sich offensichtlich durch soviel Verhaltenheit provoziert, sie verbogen und zerstörten schließlich diese Arbeit.

Gewiß, Tuttle und seine Arbeiten sind demjenigen nicht leicht zugänglich, der die große Geste, das mitteilsame Bild oder die voluminöse Plastik erwartet. Der in New York lebende Künstler ist ein Mensch, der sehr viel und intensiv nachdenkt. Ein kurzes Gespräch mit ihm wird schnell zur Reise durch eine reiche Gedankenwelt, in der es um Wechselbeziehungen zwischen Kreativität und Intellekt, um Lebensgefühl, um Politik und um Fragen der Kunst geht. Der Fragesteller wartet leicht vergeblich auf den Moment, in dem sich die Aussagen über Kunst zur Arbeitsbeschreibung verdichten, wenn er nicht erkennt, daß für Tuttle genau der Punkt, an dem er sich auf eine Form festlegt, der kritische ist.

„Ich will zeigen, was es heißt, heute zu leben,“ sagt er. Das klingt einfach. Doch dann ergänzt Tuttle: „Ich will zeigen, was heute ist und was heute nicht ist. Das ist mein größter Ehrgeiz.“ Ein künstlerisches, ein philosophisches, ein existenzielles Grundproblem: eine Momentaufnahme des Lebens zu machen, ohne ein erstarrtes Bild zu bekommen. Tuttles Arbeiten sind dementsprechend verhaltene Versuche, Formen und Gesten des Übergangs zu finden – ein Draht bleibt eine andeutende Linie, hingetupfte Farben verlaufen, ehe sie zum Bild werden können.

In der Orangerie zeigt Tuttle an zwei gegenüberliegenden Wänden hingehauchte Aquarelle Wenige Tupfer lassen ein dünnes Farbgebilde entstehen. das sich gegen die Linien des Papiers, auf die sie gesetzt sind, behaupten müssen. Die Blätter der Serie sind in sehr massive, gleichgroße Holzrahmen gefaßt. Von weitem wirken die Rahmen stärker als das, was sie einschließen.

Für Richard Tuttle sind die Rahmen aber keine Bildhalter. Er sieht die Rahmung als Möglichkeit an, eine zweite Bildebene zu schaffen – neben das feste und sich gleichmäßig wiederholende Rahmenbild treten die sich ständig verändernden Papierbilder.

Mai/Juni 1982

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