An der Grenze der Wahrnehmung

Bei den vergangenen acht documenten sind Hunderttausende von Ausstellungsbesuchern achtlos an dem AOK-Haus am Friedrichsplatz vorbeigegangen. Warum auch nicht, denn was hatte dieser 50er-Jahre-Bau mit der internationalen Kunst zu tun? Im Grunde nichts.

Seitdem aber Jan Hoet den Reiz des gläsernen AOK-Treppenhauses entdeckt hat, gilt das nicht mehr. Auf einmal rückt das Treppenhaus ins Zentrum der documenta-Struktur. Es ist für Hoet das Scharnier der Ausstellung, der Dreh- und Angelpunkt, der einen Überblick über die Ausstellurigsorte ermöglicht. Hier soll eine Arbeit des aus Texas stammenden Max Neuhaus präsentiert werden.

Neuhaus ist stolz darauf, daß sich Hoet für ihn entschied, bevor sich beide kennenlernten: Der documenta-Leiter war bei einem Gang durch das Museum für zeitgenössische Kunst in Chicago auf den Künstler aufmerksam geworden. Dort hatte Neuhaus in dem spiralförmigen Treppenhaus eine Klangarbeit installiert, die Hoet unmittelbar begeisterte.

Max Neuhaus (Jahrgang 1939) ist der Ausbildung nach nämlich Musiker. Er studierte am Konservatorium, widmete sich der zeitgenössischen Musik und hatte als Percussionist Erfolg. Dann aber (1966) genügte es Neuhaus nicht mehr, Konzerte zu geben. Ihm schwebte vor, Klänge im Raum deutlich zu plazieren. So wechselte er das Forum und fand nun seine Spielräume in Museen und
im Zusammenhang mit Ausstellungen.

Mittlerweile ist Neuhaus mit Arbeiten rund um die Welt vertreten. Er hat Arbeiten für Museen entwickelt, aber auch für Straßen und Plätze. An dem Platz etwa, an dem in Köln der Kunstverein und eine Kirche aneinander grenzen, ist solch eine Klangarbeit installiert: Viele Passanten werden sie wegen des großen Straßenlärms gar nicht wahrnehmen, andere halten irritiert inne, weil sie meinen, eine ferne Glocke zu hören und sich dann doch nicht sicher sind.

Genau dies will Neuhaus – einen sich stetig verändernden Klangteppich schaffen, der auch den auf- und abschwellenden Geräuschpegel des Ortes berücksichtigt. Neubaus komponiert keine Musik und keine Tonstücke. Er baut vielmehr Klang- und Geräuschfolgen auf, die sich an der Grenze der Wahrnehmung bewegen. Man kann sie hören, man kann sie auch überhören.

Ins AOK-Treppenhaus werden die documenta-Besucher allerdings gezielt kommen. Deshalb muß die Arbeit unter allen Bedingungen funktionieren – bei Geschäftslärm genauso gut wie bei abendlicher Stille.

HNA 5. 2. 1992

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