Es gibt Tausende von Definitionen von Kunst. Doch die meisten stimmen nicht, wenn man beschreiben will, was der Österreicher Flatz (Jahrgang 1952, einen Vornamen führt er nicht) im Sinn hat. Die Kunst, die ihn umtreibt, ist existenzielL Sie ist herausfordernd, provozierend und manchmal bedrohlich. Wer dabei ist, setzt viel aufs Spiel. Das gilt für den Aktionskünstler ebenso wie für den Augenzeugen, der nicht länger Zuschauer bleibt: Kunst als das Unausweichliche.
Zwei Beispiele: Während im Münchner Kunstverein vor großem Publikum von einem Gerüst eine Sängerin Verdis Ave Maria sang, ließ Flatz seine Helfer den einzigen Ausgang mit einer Bücherwand verbarrikadieren. Am Ende der Arie sahen sich die Zuhörer als die Eingeschlossenen. Doch es dauerte nicht lange, bis die ersten Bildungsbürger die Wand zum Einsturz brachten und über den Bücherberg davonmarschierten. Genau dies zu demonstrieren, war Flatz Ziel: Der Kunstgenuß hat seine Grenzen, wenn eine körperliche Bedrohung spürbar wird.
Ein Dutzend Jahre zuvor hatte sich Flatz in Stuttgart bei einer Performance-Reihe unbekleidet vor eine weiße Wand gestellt und am Eingang Karten ausgeben lassen, auf denen stand: Sie erhalten DM 500,- in bar, wenn Sie das Ziel treffen. An der Karte war ein Wurfpfeil befestigt. Flatz versuchte, den geworfenen Pfeilen auszuweichen, doch der elfte traf. Der Werfer erhielt 500 Mark.
Der gelernte Goldschmied Flatz ist als Künstler auch Verhaltensforscher, einer, der die Menschen in Extremsituationen lockt, um deren Reaktionen zu testen. Wozu sind die Leute bereit? Wie weit gehen sie, um ihre Ängste und Aggressionen abzureagieren? Die Spielregeln, so meint er, sind von der Leistungsgesellschaft längst diktiert. Er nimmt sie auf, transferiert sie und gibt ihnen eine Form. Die entstehenden Risiken nimmt er dabei in Kauf. Doch er hält sie so klein wie möglich, weil Kunst für ihn auch Planung ist.
Zur documenta wird Platz auch mit einer Aktion kommen, einer Demontage, wie er die Performance nennt. Es wird übrigens in der Reihe seiner Spiele mit dem Publikum das letzte sein, weil er, wie er versichert, jetzt soweit ist, daß er bei der unmittelbaren Aktion keine Zuschauer mehr braucht.
Doch sein Hauptbeitrag wird eine Installation sein, die auch etwas mit Körperlichkeit zu tun haben wird. Niemand, der durch die documenta gehen wird, kann ihr ausweichen. Es wird sein, als müsse man sich durch Dutzende von Menschen hindurchquetschen. Auch dies wird eine Form sein, die Aggressionen herausfordern kann.
HNA 30. 1. 1992