Für die Leute oder die Kunst?

Als Arnold Bode und seine Freunde vor 36 Jahren in Kassel die erste documenta vorbereiteten, war alles einfach: Die Ausstellung, so lautete das Programm, sollte der Jugend die Kunst der Moderne vor Augen führen. Es galt, einer Generation, die von Picasso, Klee und Kandinsky nichts oder nur wenig kannte, die Meisterwerke der ersten Jahrhunderthälfte zu präsentieren.

Mittlerweile sind die Väter der Moderne bekannt; und auch die Kunst der Gegenwart ist fast ständig präsent. Eine Großausstellung jagt die andere. Also muß sich auch die Kasseler documenta, die im nächsten Sommer zum neunten Mal stattfinden soll, nach ihrer Funktion befragen lassen.

Als am Wochenende documenta-Leiter Jan Hoet und sein Team mit neun bereits ausgewählten Künstlern über ihre Planungen zur documenta 9 diskutierten, da übernahm der Düsseldorfer Bildhauer Thomas Schütte den bisweilen quälenden Part des zweifelnden Beiträgers: Schütte sieht sich und sein Werk auf vielen Großausstellungen mißbraucht. Ein Großteil seiner Beiträge zu solchen Veranstaltungen sei nicht von ihm gekommen, sondern habe er nur für die Projekte gemacht. Und. was passiere mit einem Raum und seinem Klima in einer Schau, wenn die Besuchermassen diesen Raum gar nicht wahrnehmen könnten. Für wen also werde die documenta gemacht – für die Leute oder für die Kunst?

Jan Hoets Antwort war klar: für beide. Der Museumsmann aus Gent, der immer wieder dafür wirbt, eine documenta der Künstler zu machen, der möglichst alle 125 einzuladenden Künstler nach Kassel holen will, um mit ihnen an Ort und Stelle zu besprechen, was wo gezeigt wird, will sich ganz in den Dienst der Kunst stellen, um diese dann möglichst unverstellt den Besuchern zu präsentieren. Hoet liebt und sucht den Dialog – mit beiden Seiten, denn Kunst vollendet sich für ihn erst in der Konfrontation mit dem Publikum: Der Betrachter muß das Kunstwerk komplettieren.

Die Liebe zum Dialog kennzeichnete auch die Etappe, die Hoet am Wochenende auf seinem Weg zur documenta 9 begann. Nachdem er und seine drei Mitarbeiter durch die Ateliers und Galerien der Welt gereist waren, nachdem sie miteinander immer wieder über die Grundfragen der Kunst diskutiert und bei einem ersten Gesprächsmarathon in Gent auch die Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit gesucht hatten, wandten sie sich nun dem Gespräch mit den Künstlern zu, die bereits als documenta-Teilnehmer feststehen.

Den ursprünglichen Plan, die neun wichtigsten Künstler, also die Plattform seiner Ausstellung, einzuladen, hatte er fallen lassen müssen, weil die nicht zusammengekommen wären. Aber auch unter den jetzt geladenen Künstlern waren einige zentrale Figuren – wie der Italiener Mario Merz (und seine Frau Marisa als heimliche zehnte), die Deutschen Gerhard Richter und Thomas Schütte, der Däne Per Kirkeby und die Holländerin Marlene Dumas (die alle schon documenta-Erfahrungen haben) sowie Pedro Cabrita Reis (Portugal), David Hammons (USA), Ilya Kabakov (UdSSR, jetzt Paris) und Franz West (Österreich).

Die Gespräche mögen Hoet insgesamt ermutigt haben, an die Stelle von Kategorien und Konzepten eine Struktur zu setzen, die Räume für Kunst ermöglicht. Gleichwohl hat das documenta-Team einige kritische Anmerkungen mit auf den Weg bekommen: Auch wenn Ausstellung ein Publikumserfolg werden soll, wird man dafür sorgen müssen, daß nicht zu bestimmten Zeiten durch Massenansturm die Wirkung der Räume verlorengeht.

Um die in Kassel verfügbaren Räume drehte sich denn auch ein wesentlicher Teil des Gesprächs: Neben dem Museum Fridericianum als Stammhaus und der im Bau befindlichen documenta-Halle hat Hoet noch fünf andere Standorte im Auge, wobei er sich ganz auf den Friedrichsplatz und sein Umfeld konzentrieren will. Künstler, die bereit sind, in den Dialog mit älterer Kunst zu treten, sollen der Neuen Galerie ausstellen können; außerdem will er das Ottoneum (Naturkundemuseum) und das 50er-Jahre-Treppenhaus der AOK einbeziehen. In der Aue möchte er gerne temporäre Pavillons errichten; und schließlich will er in einem Geschäftshaus gegenüber vom Fridericianum das zeigen, was er im Rucksack (im Hintergrund hat — Zeichnungen von zehn Künstlern, die nicht in der documenta vertreten sind.

HNA 25. 2. 1991

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