Unterschiedliche Erlebnisräume

Einen ersten Einblick in die Struktur der von ihm vorbereiteten documenta 9 ermöglichte gestern Jan Hoet. Gleichzeitig legte er die Künstierliste vor.

Mit Startschüssen aus zwei Pistolen wurde gestern die Bühne für den Auftritt des künstlerischen Leiters der documenta 9, Jan Hoet, in der neuen documenta-Halle freigegeben. Der Genter Museumsmann versteht es, zu inszenieren und sich in Szene zu setzen. Gleichzeitig signalisierte er damit, wie ernst es ihm mit der Verbindung zum Sport und mit dem documenta-Rahrnenprogramm ist: Um zu zeigen, daß die Kunst nicht das Exklusivrecht auf Ausdruck gepachtet hat, sondern auch auf ganz anderen Ebenen Kraft und Schönheit erlebt werden kann, soll die documenta durch hochrangige Jazz-, Baseball- und Boxveranstaltungen ergänzt werden. Ein Freilichtfilmfest im Hof des Fridericianums wiederum soll alle drei Disziplinen anhand populärer Filme spiegeln. Auch gestern wurde (von der Band „Jazz oder Nie“) in den Pausen Jazz aufgespielt.

Die documenta selbst soll zu einem Spaziergang einladen, bei dem man die unterschiedlichen Ausdrucksweisen und Klimata zeitgenössischer Kunst in acht Gebäuden erfahren soll. Bei der gestrigen Pressekonferenz skizzierte Jan Hoet die von ihm und seinem Team entworfene Struktur der nächsten documenta und präsentierte eine Liste der bislang 186 eingeladenen Künstler. Da Hoet offen bleiben will für Neuentdeckungen, werden noch weitere Namen dazu kommen, so daß man mit rund 200 Künstlern rechnen kann.

Wie auch schon der Holländer Rudi Fuchs im Jahre 1982 nutzt Hoet die „Helden“ der zeitgenössischen Kunst als Fundament für seine Ausstellung. Dazu zählen für ihn Francis Bacon, Ellsworth Kelly, Jannis Kounellis, Mario Merz, Gerhard Richter und Per Kirkeby. Deren Werke wird er mit den Arbeiten der mittleren und jüngeren Generation konfrontieren. Nicht dabei sind die internationalen Stars der deutschen Kunst wie Anselm Kiefer und Georg Baselitz. Auf die Frage eines Journalisten, warum er sich nicht für Kiefer entschieden habe, meinte Hoet: „Das ist mein Grund.“

Anders als Fuchs aber will Hoet die für ihn bestehende künstlerische Hierarchie nicht zum Grundmuster für die Ausstellung werden lassen und nicht auf die Gebäude übertragen. Zum Scharnier der Ausstellung soll das gläserne Treppenhaus des aus den 50er Jahren stammenden AOK-Verwaltungsgebäudes am Rande des Friedrichsplatzes werden: In diesem Treppenhaus wird eine Klanginstallation (von Max Neuhaus) nur die Ohren der Besucher in Anspruch nehmen, während die Augen freibleiben für den Blick auf die Stadtlandschaft und die anderen Spielorte der documenta, die Hoet als unterschiedliche Erlebnisräume begreift: das Museum Fridericianum (Ort der Kraft), das Ottoneum (Haus der Stille), die neue documenta-Halle (als Monument der Maschine), die temporären Pavillons in der Aue (Gebäude des Lichts), die Neue Galerie (das klassische Museum), ein Wohnhaus am Friedrichsplatz (Ort des Individuums) und ein Raum in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule hinter dem Fridericianum (Ort der Ironie).

Den Zwehrenturm am Fridericianum will Hoet zu einem Turm der „Heiligen“ werden lassen. Hier sollen, sozusagen als Ausdruck einer kollektiven und doch ganz subjektiven kunsthistorischen Erinnerung, Werke von „Außenseitern“ gezeigt werden, die als Ahnen beschworen werden sollen: Jacques Louis David, Paul Gauguin, Barnett Newman, Alberto Giacometti, Joseph Beuys und ein lebender Künstler.

Um zu erläutern, wie er seine Struktur ausfüllen will, gab Hoet einige Beispiele: Das Entree im Fridericianum wird Bruce Nauman (für Hoet seit Anbeginn die Schlüsselfigur) gestalten. Ihm werden gegenübergestellt einerseits Arbeiten von Peter Kogler und andererseits Werke von Marisa Merz und Louise Bourgois. Im Ottoneum, das als Naturkundemuseum genutzt wird, sollen unter anderen Lothar Baumgarten, Ettore Spaletti und Maria Serebriakova Arbeiten zeigen. In der documenta-Halle will Hoet Künstler wie Panamarenko oder Gerhard Richter präsentieren, während er in den Pavillons in der Aue etwa Malerei von Herbert Brandl und Christa Näher oder Skulpturen von Isa Genzken vorstellen will.

Die Idee seiner Genter Erfolgsausstellung „Chambres d‘amis“, bei der Hoet Kunstprojekte in Wohnhäusern präsentierte, überträgt er in Kassel auf die Neue Galerie und das Wohnhaus Nr. 9 am Friedrichsplatz. Die Neue Galerie bleibt als Museum präsent; sie schafft Platz für ein Dutzend Künstler, die mit ihren Arbeiten auf das Haus reagieren wollen.

Für die documenta steht nach der letzten Etat-Anhebung ein Haushalt von insgesamt 15,6 Millionen Mark zur Verfügung. Davon sollen neun Mi1lionen durch Eintrittskarten, Erlöse. Lizenzen und Sponsorengelder von der documenta selbst erbracht werden.

Kommentar

Hohe Erwartungen
Die Dramaturgie hat funktioniert. Indem mit der Künstlerliste die neue documenta-Halle präsentiert wurde, gewann die Pressekonferenz Erlebniswert, ganz gleich, wie die einzelnen Kritiker Hoets Konzept werten. Und genau um die Ermöglichung und Verstärkung der sinnlichen Erfahrung geht es Hoet bei der Vorbereitung der documenta: Die Ausstellung mag und soll im Rückblick ein kunsthistorisches Ereignis werden. Doch die Besucher sollen keinen Gang durch die Kunstgeschichte machen, sondern sollen Kunst als etwas Kraftvolles und Schönes erleben, sie sollen gepackt werden wie beim Boxkampf oder Jazzkonzert.

Dies ist ein hoher Anspruch, den Hoet damit an sich und die Ausstellung stellt. Ob die Kunstschau im Sommer das Versprechen einzulösen vermag, verrät die gestern vorgelegte Künstlerliste erst mal nicht. Jeder mag für sich wichtige und vertraute Namen vermissen und über viele kaum bekannte stolpern, doch um die Namen geht es am Ende nicht. Vielmehr darum, ob die documenta 9 tatsächlich die internationale Kunst zu Beginn der 90er Jahre spiegeln kann und ob es gelingt, neue Einsichten in die Kunst und damit in das Leben zu ermöglichen.

Die äußeren Voraussetzungen für das Gelingen sind so günstig wie nie zuvor. Die documenta-Halle ist ein unübersehbares Zeichen dafür.

HNA 15. 1. 1992
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