„Was Kunst ist, weiß ich nicht“

KASSEL • Jan Hoet setzt auf den Erfolg, auch auf den zahlenmäßigen. Also ist ein neuer documenta-Besucherrekord für ihn realistisch. Schloß die vorige documenta mit der Rekordzahl von 476000 ab, so peilt er nun die 650 000-Marke an. Ja, selbst eine Million Besucher hält er für denkbar.

Und die Ausstellung – nähme die nicht bei einem solchen Andrang Schaden? Nein, da ist er sicher, wie er jetzt bei einem Vortrag vor den Wirtschaftsjunioren in der IHK erklärte. Erstens würden sich die Tagesbesucher auf die verschiedenen Ausstellungshäuser verteilen, und zweitens würde beim Einlaß darauf geachtet, daß innerhalb der Gebäude die Ausstellung erlebbar bleibe. Den Kasselern legt die documenta-Leitung im übrigen nahe, die erfahrungsgemäß nicht so gefragten Abendtermine (ermäßigte Abendkarte) zu nutzen.

Wie kein anderer documenta-Leiter vor ihm sucht Hoet das öffentliche Gespräch. Ob Marathon-Diskussionen oder internationale Pressekonferenzen (gestern in Zürich) oder Veranstaltungen wie die bei den Wirtschaftsjunioren – Hoet wirbt für die Ausstellung und damit für die Kunst; er sucht die Reibung mit dem Publikum. Die Gretchenfrage nach den Kriterien wurde in der IHK nicht gestellt, aber er gab die Antwort darauf: „Das, was Kunst ist, weiß ich nicht. Aber ich zeige nur das, von dem ich überzeugt bin, daß es Kunst ist.“

Um zu erklären, was er im Sinn hat, skizzierte er die Kunst, die er heute für signifikant hält. Ein Doppelkäfig von Bruce Nauman, ein Kopf im Käfig von Giacometti und eine Käfig-Konstruktion von Cady Noland führte er unter anderen als Beispiele für die Kunst an, die auf gesellschaftliche und individuelle Verletzungen reagiert und Bilder der Ausweglosigkeit schafft. In vielen Arbeiten komme zum Ausdruck, dass die Künstler Verantwortung das System empfänden, in dem sie lebten.

Erneut bekräftigte Hoet, dass die documenta 9 die Künstler nicht Hierarchien unterordnen werde. Dies werde auch an der Ausstellungsstruktur sichtbar werden. Erstmals sei das Museum Fridericianum nicht mehr der Hauptort; der historische Bau stehe vielmehr gleichberechtigt neben documenta-Halle, Aue-Pavillons und den anderen Gebäuden.

HNA 20. 2. 1992

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