Die Schauplätze der documenta 9 und ihre
Künstler: Als zweiten Ort wollen wir das Museum Fridericianum vorstellen.
Arnold Bode entdeckte das im Krieg zerstörte, nur provisorisch wieder hergerichtete Museum Fridericianum im Herzen Kassels als den idealen Ort flur seine Kunstschau, die er – gemeinsam mit Gleichgesinnten 1955 unter dem Namen docurnenta inszenierte. Das Fridericianum, 1779 als das erste öffentlich zugängliche Museum des Kontinents vollendet, wurde fortan zum Hauptschauplatz und Inbegriff der documenta. Dieses Gebäude war auch meist das geistige (und bildnerische) Zentrum der Ausstellung.
Mit dieser Tradition will nun der Belgier Jan Hoet als künstlerischer Leiter der documenta 9 brechen. Natürlich ist und bleibt das Fridericianum auch für ihn der größte Ausstellungsort der documenta. Doch er will damit Schluß machen, daß sich in dem klassizistischen Bau das Zentrum organisiert und in den anderen Häusern nur das zu sehen ist, was im Hauptbau keinen Platz hat. Jeder Schauplatz soll gleich wichtig sein. Diese Demokratisierung der Ausstellungsstruktur ergibt sich für Hoet daraus, daß mit der documenta-Halle erstmalig neben das palastartige Fridericianum ein neuer und ebenbürtiger Ausstellungsbau tritt.
Bei der documenta 9 sollen kunstgerechte Räume entstehen. Um dies im Fridericianum zu ermöglichen, ließen Hoet und sein Ausstellungsarchitekt Paul Robbrecht alle eingezogenen Zwischenwände herausnehmen und anhand der Künstlerauswahl eine neue Abfolge von Räumen, Sälen und Korridoren schaffen. Unterschiedliche Klimata ermöglichen, lautet das Ziel.
Vor allem im Fridericianum sollen die Temperamente und Haltungen stark aufeinander stoßen.
Es soll zum Ort der Kraft und der Bewegung, der Gegensätze und des Dramas werden – so wie im documenta-Signet der schwarze, dynamische und aggressive Schwan und sein stilles weißes Gegenbild aufeinandertreffen. Männlich – weiblich heißt für Hoet das Gegensatzpaar, wobei er diese Begriffe im übertragenen Sinne einsetzen will.
Es gibt auch Künstler, die, in ihren Arbeiten diese Gegensätze vereinen, die sozusagen androgyn sind. Der Amerikaner Bruce Nauman, die Schlüsselfigur in Hoets documenta-Konzept gehört dazu: Seine Karussells aus über den Boden schleifenden Tierkörper-Abformungen sind Spiegel der Gewalt und Aggression; hingegen strahlen einige seiner Stahlskulpturen, die in einer vibrierenden Balance gehalten werden, Ruhe aus; und manche seiner Clown-Videos bringen das erlösende Moment der Befreiung, die Ironie, mit ein. Eine Nauman-Arbeit wird denn
auch am Anfang des Rundgangs durch das Fridencianurn zu sehen sein.
Bruce Nauman steht auch für ein anderes Bild, auf das sich Hoet immer wieder bezieht – für das Bild des Käfigs. Von dem Amerikaner stammt nämlich eine Arbeit, die einen Käfig im Käfig zeigt. Das kann heißen: Wir sind so gefangen, daß selbst der Käfig eingesperrt ist. Auch in den Gemälden des britischen Malers Francis Bacon taucht das Käfig-Motiv immer wieder auf: Eine verletzte, deformierte, fast tierische Menschengestalt in einem eingrenzenden Rahmen. Für Hoet sind das Bilder von ungeheurer Aktualität, weshalb er Bacon (Jahrgang 1909), der erstmals 1959 in einer documenta vertreten war und längst in den Kreis der Klassiker aufgestiegen ist, wieder zu einem Zeitgenossen gemacht hat.
Nur zwei Jahre jünger als Bacon ist die amerikanische Bildhauerin Louise Bourgeois. Sie entwickelte aus der abstrakten Plastik Arbeiten, die sich im Raum entwickeln (Environments); sie befreit sich und erobert den Raum. Die Künstlerin, die in den USA Maßstäbe in der Nachkriegskunst gesetzt hat, ist hierzulande relativ unbekannt Ihre Arbeiten stehen aber – genauso wie die von ihrem Landsmann Richard Artschwager – in einer erstaunlichen Korrespondenz mit den Werken der jüngeren Generation. Diese andere, jüngere Seite vertritt im Fridericianum unter anderem der Deutsche Harald Klingelhöller, der aus der Reihung plastischer Formen zu ganz anderen Ergebnissen als Louise Bourueois gelangt.
HNA 22. 3. 1992