Die Häuser des Individuellen

Mit diesem Artikel beenden wir die Serie über die Schauplätze der documenta 9 und deren
Künstler.

Das Museum Fridericianum und der Friedrichsplatz bildeten von Anbeginn das zentrale Aktionsfeld der Kasseler documenta. Doch bei keiner Ausstellung zuvor war der Friedrichsplatz so intensiv als Bühne genutzt worden. Auf dem Platz selbst sind schon die Arbeiten von Jonathan Borofsky (USA), Pedro Cabrita Reis (Portugal), Keun Byung Yook (Korea) und Mo Edoga (Nigeria) zu sehen. Auf dem Portikus des Roten Palais steht eine Figurengruppe von Thomas Schütte (Deutschland), und in den daneben befindlichen Vitrinen entsteht eine Installation von Guillaume Bijl (Belgien).

Noch bevor dieser erstaunlich große Umfang von Außenskulpturen und -installationen absehbar gewesen war, hatte documenta-Leiter Jan Hoet die Möglichkeit entdeckt, mit Einzelbeiträgen aus den großen Ausstellungshallen herauszugehen. Wo es darum geht, die Kunstwerke in unterschiedlichen Klimata zu präsentieren, muß der Gruppenschau auch das individuelle Element entgegengesetzt werden.

Als ersten dieser stillen Orte entdeckte Hoet das Treppenhaus des AOK-Gebäudes an der Kante zur Karlsaue. Das gläserne Treppenhaus, als typisches Beispiel der 50er-Jahre-Architektur unter Denkmalschutz gestellt, hatten die früheren documenten links liegen lassen. Der Neubau der documenta-Halle und die dadurch entstehende Achse zwischen der HaIle und der Neuen Galerie holen das AOK-Gebäude nun aus dem Abseits heraus. Ja, das Treppenhaus gewinnt plötzlich, wie es Hoet sieht, Schlüsselfunktion: Es ist Zentralachse und Scharnier der gesamten Ausstellung, weil man aus ihm heraus fast alle anderen Häuser im Rundblick erfassen kann. Noch mehr: Indem man sich aus der Ausstellung entfernt, kann man sie von dort aus neu in den Blick nehmen.

Eine solche Raumvorstellung schließt die Präsentation von Objekten oder Bildern in dem Treppenhaus aus. Um es trotzdem für einen documenta-Beitrag zu nutzen, entschied sich Hoet, den Amerikaner Max Neuhaus für das Treppenhaus eine Klanginstallation schaffen zu lassen. Neuhaus hat diesen Auftrag gern übernommen, da es ihn reizt, Klangstrukturen für einen Raum zu entwickeln, die sehr verhalten sind und die die Besucher im Ungewissen darüber lassen, welche Geräusche zu dem Ort gehören und welche, hinzukommen.

Der zweite Ort des Individuellen ist ein ehemaliges Pelzgeschäft, das genau gegenüber vom Museum Fridericianum liegt. Gegenüber dem Haus der Gegensätze und des Kollektivs soll sich in dem Laden die Sprache des einzelnen entfalten. Den Raum erhielt der italienische Künstler Michelangelo Pistoletto, der bereits an den documenten 4 und 7 teilgenommen hat. Pistoletto, vornehmlich durch seine Spiegelbilder international bekannt geworden, ist ein Künstler, der sich ebenso mit der schwerlastigen klassischen Tradition auseinandersetzt wie mit der Frage, wie das Bild des Menschen faßbar werden kann. Für das Geschäft richtete er unter dem Namen „Happy turtle – glückliche Schildkröte“ eine vielschichtige poetische Installation ein. Den Schlußpunkt dieser Installation bildet im Hinterraum ein Spiegel, in dem auch das Museum Fridericianum sichtbar wird.

Hinter dem Fridericianum liegt die ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule, die heute als städtisches Kulturzentrum (Dock 4) dient. Die Chance, in einem früheren Klassenraum eine Arbeit zeigen zu können will Rebecca Horn dazu nutzen, um sich in einer Installation mit der eigenen Schulzeit auseinanderzusetzen. Rebecca Horn, zwischen 1972 und 1987 dreimal an der documenta beteiligt, ist Trägerin des Kasseler Bode-Preises und wird im Herbst den Goslarer Kaiserring erhalten.

HNA 17. 5. 1992

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