Ein documenta-Werk soll am Ehrenmal enstehen. Durch ein beispielhaft klärendes Gespräch am Ort wurde möglicher Konfliktstoff aus dem Weg geräumt.
Kein alltägliches Bild: Vertreter der Bundeswehr und Traditionsverbände treffen sich mit der documenta-Leitung zum Ortstermin am Ehrenmal in der Karlsaue. Für die Stadt hat Kulturdezernentin Irmgard Schleier eingeladen – zum offenen Gespräch über die Absichten, im Innenraum des Ehrenmals einen documenta-Beitrag zu installieren, und über die Bedenken gegen das Vorhaben. An einigen Gesichtern ist ablesbar, daß es nicht leicht werden würde, die gegensätzlichen Interessen auf einen Nenner zu bringen, Doch dann kommt alles anders.
Bevor der eigens aus Berlin angereiste Künstler Via Lewandowsky sein Konzept erläutern kann, wird die Gesprächsrunde mit der traurigen Realität des Ehrenmals konfrontiert: Als das Gitter zum Innenraum aufgeschlossen wird, schlüpft ein junges Pärchen heraus. Die jungen Leute hatten sich, offenbar wie schon viele vor ihnen, durch das Gitter nach innen durchgezwängt, um sich dort niederzulassen. Doch nicht nur das. Der Boden ist übersät mit Flaschenscherben und Einwegspritzen. Das Ehrenmal als Fixertreffpunkt.
Alle sind betroffen und benommen. Sonst versammelt man sich nur hier zum Volkstrauertag – wenn das Reinigungsamt zuvor gewirkt hat. Jetzt aber erlebt man den Alltag. Stadtverordnetenvorsteher Günter Kestner bekennt mit anderen: Ich schäme mich für diesen Zustand.
Als dann Via Lewandowsky seinen geplanten documenta-Beitrag in ruhigen Worten erläutert, wird klar, daß nichts umgedreht oder ironisiert werden soll, sondern daß das Ehrenmal durch seine Arbeit eher aus dem Abseits herausgeholt werden soll. Lewandowskys Beitrag soll auf drei Orte verteilt und bezogen werden: Die Ausstellung im Fridericianum will er mit Bildtafeln und Texten gewissermaßen kommentieren; auf das flüchtige Spiel im Theater will er mit einer Installation auf dem Theaterdach hinweisen, die alle 15 Minuten eine kurze Rauchfahne aufsteigen läßt; der dritte Teil schließlich ist für das Ehrenmal gedacht: Dort will der Künstler über die auf dem Boden ruhende Skulptur eines Soldaten einen schlichten Birkenholzkasten stülpen und auf einen Zwischenboden in dem Kasten einen Paraffinabguß der Skulptur in eine träge Flüssigkeit legen. Das Ganze wird mit einer Panzerglasscheibe abgedeckt.
Die Besucher sollen also einen Sarg vorfinden, in dem die vorhandene Figur verdoppelt und zugleich das Original den Blicken entzogen wird. Via Lewandowsky will dadurch das Nachdenken über den Krieg und den Tod, das Ehren und Gedenken und über den Umgang mit der Vergangenheit in Gang setzen. Er wendet sich fragend und auffordernd an das Publikum. Am Ende eines Raumes – Gebeinkiste und Spruchkammer soll die Arbeit heißen. Lewandowsky will damit die beiden Pole benennen, zwischen denen sich das Nachdenken über Tod und Vergangenheit abspielen kann – zwischen der Erinnerung an die christliche Gebeinkiste und zwischen dem politischen Instrument der Spruchkammer (in der Nachkriegszeit).
Vor allem der Titel rief anfangs Irritationen hervor. Irmgard Schleier gelang es aber schnell, eine offene und konstruktive Diskussion in Gang zu setzen. Sie warb um das Einverständnis der Traditionsverbände, indem sie deren Bedenken ernsthaft aufnahm und gemeinsam mit documenta-Leiter Jan Hoet und dem Künstler darauf einging. Und es wurde verständlich, daß der künstlerische Eingriff dem Ehrenmal seine Bedeutung und Stille zurückgeben werde. Als dann auch noch besprochen wurde, daß für die Nutzung durch die documenta die Zugänge zum Ehrenmal instandgesetzt werden sollten, das Innere gereinigt und auch bewacht werde, stand der Zustimmung nichts mehr im Wege.
Das Gespräch war zu einem Musterbeispiel von Kunstvermittlung und politischer Kultur geworden.
HNA 7. 5. 1992