Hängung auf Probe

Es gibt einen grundsätzlichen Streit um die Zukunft der Neuen Galerie in Kassel: Soll das Museum nach dem Umbau – ähnlich wie früher – mit dem 19. Jahrhundert beginnen, oder soll sie dort starten, wo die ersten Vorboten der Moderne zu spüren sind, also am Ende des 19. Jahrhunderts, um sich dann schwerpunktmäßig der Kunst des 20. und des 21. Jahrhunderts zuzuwenden? In den neu gefassten Vertrag der Stadt Kassel und des Landes Hessen über die Neue Galerie, in der die städtischen und staatlichen Sammlungen vereinigt sind, steht ausdrücklich, dass die Neue Galerie zu einem Museum der zeitgenössischen Kunst ausgebaut werden solle.

Der Konflikt wird dadurch verschleiert, dass die Leitung der Museumslandschaft Hessen Kassel (mhk) dieser Vertragsklausel nicht widerspricht, sondern ausdrücklich zustimmt, um dann zu sagen, die Kunst der Gegenwart könne man nur verstehen, wenn man deren Fundament, das 19. Jahrhundert, mit einbeziehe. Lediglich das späte 18. Jahrhundert soll nach Wilhelmshöhe verlagert werden.

So wird der Streit nicht ausgetragen, sondern beiseite geschoben. Gleichzeitig wird der Konflikt dadurch verharmlost, dass die Ausstellung im Schloss Wilhelmshöhe, die modell haft zeigen sollte, wie die Neue Galerie künftig inhaltlich gefüllt werden solle, nicht im Sinne der mhk-Äußerungen beim frühen 19. Jahrhundert einsetzte, sondern dort, wo man die Moderne erspüren kann.

Nun gab es am 9. April in der Orangerie ein Colloquium, zu dem auswärtige Kunsthistoriker und Museumsleute eingeladen waren, in dem die Neukonzeption vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Sammlung erörtert werden sollte. In seiner Einleitung hatte Direktor Prof. Bernd Küster für die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart plädiert und sich für einen ständig erneuernden Prozess ausgesprochen. Er versprach ein hochwertiges Spektrum der Kunst aus zwei Jahrhunderten.

Allerdings wurde in keinem der Vorträge untersucht, wie es denn um die Qualität der Bestände stehe. Unstrittig ist die internationale Qualität der Sammlung der Alten Meister. Bekannt ist aber, dass es im 19. Jahrhundert nicht mehr sammelnde Fürsten mit europäischem Blick in Kassel gab. Vielmehr wurden Kasseler, hessische und deutsche Werke erworben – und nicht immer auf dem höchsten Niveau. Auch im frühen 19. Jahrhundert fehlten die systematischen Sammler. Die Anfänge der Moderne werden also nur punktuell und sehr zufällig präsentiert. Das heißt: Zum Dialog Vergangenheit – Gegenwart fehlen gleich für mehrere Epochen die Partner.

Die Last, das 19. Jahrhundert zu zeigen, trägt vor allem die städtische Sammlung. Deren mit vielen Irrungen und Wirrungen behaftete Geschichte, wie sie Neue Galerie-Leiterin Dr. Marianne Heinz umriss, ist ein Beleg dafür, dass das 19. Jahrhundert gar nicht diese Strahlkraft erreichen konnte.

Die drei Gastvorträge, die in dem Colloquium gehalten wurden, waren zum Teil nicht uninteressant, verfehlten aber weitgehend die eigentlichen Fragestellungen. Beispielsweise wird das Verhältnis der Neuen Galerie zur documenta-Kunst erst ab 1972 spannend, als sich der Kunstbegriff zu erweitern begann und Fotografie, Video, Performance und Installation neben die klassischen Medien Malerei und Plastik traten. Doch nicht darüber sprach Prof. Martin Schieder (Leipzig), sondern über die documenta 1 und deren Mythos. Es war interessant, zu hören, dass die von der französischen Besatzungsmacht forcierten Ausstellungen direkt und indirekt die erste documenta prägten. Andererseits ist Schieder wohl unbekannt, dass Arnold Bode bei der Auswahl der deutschen Künstler auf seine Kenntnisse aus seiner kuratorischen Arbeit in der Orangerie-Ausstellung von 1929 Bezug nehmen konnte, in der er schon rund 20 Künstler zeigte, die 1955 in der documenta dabei sein sollten. Nicht die Frage, ob die Künstler von den Nationalsozialisten als entartet gebrandmarkt worden waren, war für Bodes und Haftmanns Auswahl entscheidend gewesen, sondern ob sie die Meister und Vorbilder der Nachkriegskunst waren. Auch war es merkwürdig, dass Schieder die Künstlerliste der ersten documenta als eher restaurativ und konservativ einstufte – nur weil das Informel und die Art brut fast ganz fehlten. Natürlich fehlte etliches, aber gleichwohl war die Auswahl nach vorn gerichtet. Auch scheint nicht mehr im Bewusstsein zu sein, wie hart umkämpft die Durchsetzung der Moderne und zeitgenössischen Kunst war – trotz der Abwendung vom Nationalsozialismus.

Doch zum Umgang mit der zeitgenössischen Kunst in dem Museum brachte der Vortrag nichts. Noch mehr galt das für die Anmerkungen von Prof. Andreas Tönnesmann (Zürich), der einem reinen Museum der Gegenwart eine Absage erteilte und der sich für Konfrontationen alter und neuer Kunst aussprach. Allerdings war seine eigene Gegenüberstellung von Hummels Bergpark-Ansicht und Corinths Walchensee mehr als kühn – nämlich abwegig.

Prof. Hubertus Gaßner, der heute die Hamburger Kunsthalle leitet und in Kassel Chef des documenta Archivs war, bestätigte zwar der Form nach den Wunsch der mhk, beim frühen 19. Jahrhundert einzusetzen, warb aber sehr für geistreiche Verknüpfungen und für große Wechselausstellungen, die erst für regen Publikumszuspruch sorgen.

Immerhin zeigte sich Prof. Küster in der kurzen Aussprache als offen und flexibel. Größere Wechselausstellungen sind nahe dem Eingangsbereich nicht nur im Souterrain, sondern gegebenenfalls auf drei Etagen möglich. Außerdem könne man die Künstlerräume des 19. Jahrhunderts gelegentlich austauschen.

Die wichtigste Nachricht gab er am Schluss bekannt. Wenn im Herbst 2011 die Neue Galerie wiedereröffnet wird, bleibt die neue Hängung nur für ein halbes Jahr, weil dann für die documenta 13 ausgeräumt wird. Das heißt: Die Neueinrichtung wird zum Probelauf, den man insentiv beobachten und prüfen kann, um dann 2013 möglicherweise Korrekturen vorzunehmen. Das ist beruhigend.

11. 4. 2010

Nachtrag

Prof. Küster hat seine öffentliche Ankündigung, die Neue Galerie werde im Frühjahr 2012 für die documenta wieder ausgeräumt, korrigiert. Man stehe offen und wohlwollend mit der documenta-Leitung in Verhandlung darüber, in welchen Räumen und wie umfangreich die documenta in der Neuen Galerie gastieren könne. Damit relativierte er seine Aussage, die Neue Galerie werde (nahezu) komplett für die documenta ausgeräumt. Eine Totalinszenierung wie bei der documenta 12, so ist zu hören, werde es nicht geben.

Doch auch die teilweise documenta-Nutzung der Neuen Galerie hat zur Folge, dass die Präsentation der Museumssammlung zur Wiedereröffnung im Herbst 2011 praktisch ein Probelauf ist und dazu führen kann, dass nach 2012 eine andere Hängung vorgenommen wird.

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