Die documenta 9 ist in vielen Hinsichten anders als ihre Vorgängerinnen.
Die documenta 8 hatte zwar einen neuen Besucherrekord beschert und auch einige bemerkenswerte Kunstwerke nach Kassel gebracht. Trotzdem hatte sie eine Art Katzen-Jammer hinterlassen. Das Konzept mit seiner Verquickung von Kunst, Architektur und Design hatte den Zeitgeist gespiegelt, doch auch viele Ungereimtheiten produziert. Am stärksten waren aber die Zweifel, ob denn immer noch eine Großausstellung funktioniere.
Die Zweifel erhielten reichlich Nahrung, als in den Jahren darauf die beiden Großausstellungen Bilderstreit (Köln) und Metropolis (Berlin) nicht recht überzeugen konnten. Bilderstreit gar war zum Musterbeispiel der gescheiterten Mammutschau geworden. Also entsprach es ebenfalls dem Geist der Zeit, daß der belgische Museumsdirektor Jan Hoet, als er seine Visitenkarte in Kassel abgab, über den Sinn und Unsinn großer Kunstausstellungen sprach. In dem Vortrag, den er damals (1988) im Kasseler Kunstverein hielt, stellte er seine Alternative vor, die Genter Ausstellung Chambres damis, bei der mehr als 50 Künstler mit ihren Arbeiten in Privatwohnungen eingezogen waren.
Nun hatte Hoet gleich durchblicken lassen, daß dergleichen nicht (beliebig) wiederholbar sei. Ihm und den anderen Beteiligten hätte das Experiment aber dazu verholfen, ein neues, ein unverbrauchteres Verhältnis zu Museen und anderen Ausstellungsorten zu gewinnen.
Doch das Experiment Chambres damis bleibt nicht einmalig. Den Geist und das Rezept dieser dialogischen Kunstschau mit dem halben Rückzug ins Private hat Jan Hoet mit nach Kassel gebracht. Von Anfang an hatte Hoet auf die wechselnden Klimata der Räume gesetzt – Museum, Kunsthalle, Pavillons, Geschäftshaus. Je länger und je detaillierter er aber an der Struktur der Ausstellung arbeitete, desto expansiver dachte er, desto mehr Chambres damis-Elemente bezog er in das
Konzept der documenta 9 ein.
Das fängt damit an, daß er auch innerhalb der großen Häuser – Museum Fridericianum, documenta-Halle und Aue-Pavillons – private und intime Räume geschaffen hat. Am stärksten aber ist dieser Geist in der Neuen Galerie zu spüren, in der einige Künstler ganze Räume und Flure mit ihren Arbeiten besetzen durften. Und schließlich kommen die zahlreichen Häuser hinzu, in denen jeweils nur ein Künstler ein Gastspiel gibt. Das bedeutet: Die Großausstellung findet statt und wird zugleich unterlaufen. Vielleicht gelingt es, ihr durch das dialektische Aufbrechen des Prinzips der Superschau neue Kraft zu verleihen.
In der Phase der Vorbereitung war aber noch wichtiger, daß Jan Hoet die bestehenden Zweifel immer wieder hinweggeredet hat. Weil er nicht nur an sich glaubt, sondern auch an die documenta als Institution, konnte er die dunklen Wolken verscheuchen. Kein Wunder, daß dieser Mann mit seinem charismatischen Blick sich Beinamen wie Missionar, Zauberer und Hexer einhandelte so als ginge es nicht mit rechten Dingen zu. Dabei ist er eben nur ein Ausstellungsmacher, der sich konsequent zu seiner Subjektivität und seiner Begeisterungsfähigkeit bekennt – sozusagen zum Ausstellungsmachen als künstlerische Kraft.
Hoets Unbedingtheit hat dabei auch noch andere Folgen: Weil er sein Team auf sich zugeschnitten hat, gab es in der gesamten Vorbereitungsphase keine nach außen dringender konzeptionellen Konflikte. So reibungslos ist noch keine documenta eingefädelt worden.
Aber auch in anderer Hinsicht ist diese documenta anders als ihre Vorgängerinnen Erstmals verfügt die Kasseler Kunstschau mit der in Rekordzeit erbauten und viel Lob bedachten documenta-Halle über ein ureigenes Ausstellungsgebäude, das die Institution zu dem festigen hilft. Eine weiter architektonische Attraktion bilden (jenseits der räumlicher Erweiterung) die temporärer Bauten – die Aue-Pavillons.
Das alles hat Hoets Aufgabe nicht leichter gemacht. Blick man auf das Programm, das rund um die documenta auf die Beine gestellt wurde, und registriert man das riesige Medieninteresse, dann ahnt man, wie groß der Erwartungsdruck ist.
HNA 13. 6. 1992