Schon einmal war das documenta-Signet ausgebrochen aus der Reihe meist konstruktiv entwickelter Kürzel und Zahlen: Vor genau 20 Jahren, zur documenta 5, tummelten sich auf orange-rotem Grund Ameisen und formierten sich – fast widerwillig – zu einer 5. Nun künden zwei Schwäne von der Kasseler Kunstschau, erhabener und poetischer als die Ameisen allemal.
Daß das documenta-Logo mit den beiden Schwänen vor zwei Jahren, als es in Gent erstmals präsentiert wurde, Irritationen auslöste, kann man heute kaum noch nachvollziehen. So fremd es damals wirkte, so vertraut und geliebt ist es heute. Der poetische Funke von dem Logo ist übergesprungen. Die Schwäne stehen für die Symbolwelt der Kunst.
Auf den Schwan gekommen ist das Team um Jan Hoet, als es sich in einem Restaurant vor den Toren der Stadt in eine hoffnungslos scheinende Diskussion über das Signet verrannt hatte. Genau da landete auf der Fulda ein Schwan. Das Tier mit dem langgestreckten Hals und den schlagenden Flügeln brachte die Rettung – es wurde zur Grundgestalt des Signets erkoren.
In dem fertigen Logo ist der weiße Schwan zu einem schwarzen geworden. Er steht für Kraft und Bewegung, für Aggressivität und Dramatik. Sein Spiegelbild ist keines, denn im schwarzen Wasser verwandelt sich der dynamische Schwan in sein Gegenbild – weiß, stolz, unbewegt und poetisch. Die Polarität der Welt und der Kunst ist in diesem Logo zusammengefaßt, es scheint alle Möglichkeiten zu fassen.
Es inspiriert auch: Unter dem Titel Das hat mir ein Vogel gesungen – SchwanenDOCUMENTAtion haben Dorlies Handt und Adelheid Weiß ein ebenso kurioses wie liebenswertes Buch (Hallo Verlag, Kassel, 214 S., 19,80 DM) herausgegeben, das eine Fülle von Texten und Zitaten der schönen und Sachliteratur versammelt, die sich um den Schwan drehen. Der Schwanen-Mythos wird noch einmal erhöht. Das Titelbild verweist zudem darauf, daß bereits die documenta 6 im Zeichen des Schwans eröffnet worden war: Antoni Miralda hatte bei der Performance Ein Fest für Leda eine Prozession mit schwarzen Schwänen veranstaltet.
HNA 13. 6. 1992