Wie sieht der documenta-Leiter seine Ausstellung unmittelbar vor der Eröffnung? Mit Jan Hoet
sprach unser Redaktionsmitglied Dirk Schwarze.
Ihr Konzept ist die documenta der Künstler. Sie haben Künstler ausgewählt, nicht Werke. Ist dadurch die documenta anders geworden, als sie gedacht hatten?
Hoet: Ich glaube es nicht.
Gibt es denn Künstler, deren documenta-Beiträge sie überraschen?
Hoet: Ja. Hermann Pitz zum Beispiel. Oder Bhupen Khakhar (Indien), der einen Zigarettenkiosk zu seinen Bildern gebaut hat. Und auch Kirkeby. Bei Kirkeby kann man das zwar schwer sagen, aber er hatte sich für die documenta eine unglaubliche Aufgabe vorgenommen. Er hat sein größtes Bild gemalt – ein Bild von fünf Metern. Auch Klingelhöller hat mich stark überrascht. Und Toroni: Statt seine Pinselabdrücke auf die Wand zu setzen, hat er das auf Zeitungen aus aller Welt gemacht. Seine Zeichensysteme hat er mit der täglichen Realität verbunden, so daß durch die Verbindungen hier und da Anekdoten entstehen. Und noch viele andere wie Herold oder Gober.
Haben Sie durch die Arbeit an der documenta neue Einsichten in die Kunst gewonnen?
Hoet: Ich selber ja – und das Team auch: Wir haben gelernt, wie stark die Künstler ihre Verantwortlichkeit spüren und aufgenommen haben. Das, was vorher wie eine Utopie erschien, hat sich als Realität bestätigt.
Ist die Kunst Ihrer Meinung noch, eher sinnlicher oder eher intellektueller geworden?
Hoet: Sinnlicher, denke ich. Selbstverständlich ist es eine Kombination von beidem. Die heutige Kunst ist auf jeden Fall weniger intellektuell als die konzeptuelle Kunst; trotzdem nicht weniger reflektierend. Die Erscheinung ist aber weniger intellektuell, weil sich die Formulierungen stärker verkörpert haben.
Gibt es einheitliche Tendenzen in der Kunst?
Hoet: Früher hat sich die Kunst stärker aus der allgemeinen Tendenz weiterentwickelt. Arte povera und Land-art zum Beispiel sind Reaktionen auf die Pop-art. Statt in der Großstadt den Impuls zu suchen, gingen die Künstler in die Landschaft oder auf die Suche nach armen Materialien. Heute dagegen beziehen sich die Künstler nicht auf Bewegungen. Jeder Künstler wählt aus der Kunstgeschichte Figuren heraus, auf die er sich bezieht, und kombiniert diesen Bezug mit seinen persönlichen Erfahrungen.
Das heißt, daß es viele individuelle Richtungen gibt?
Hoet: Ja, weil die persönliche Erfahrung so wichtig ist. Der Künstler in der Zeit von Beuys hat die individuelle Mythologie kombiniert mit Utopie. Jetzt ist an die Stelle der Utopie viel mehr Wirklichkeit getreten – es ist alles viel näher an dem dran, was uns beschäftigt.
Trifft denn der Begriff postmodern auf diese Kunst zu?
Hoet: Ja, aber weniger formal. Man darf nicht vergessen, daß der Begriff aus der Architektur kommt. Und bei der vorigen documenta hat man gesehen, daß die Architektur einen unglaublichen Einfluß auf die Kunst gehabt hat, daß die Präsentation von Zitaten eine große Rolle gespielt hat. Die Künstler haben sich aber davon wegbewegt. Jetzt werden die historischen Zitate verwandelt – durch die persönlichen Erfahrungen und Gefühle der Künstler.
Sie setzen auf die Kraft der Kunst. Hat die Kunst die Kraft, den Besuchern etwas über ihr Leben mitzuteilen?
Hoet: Das denke ich. Wenn ich die Arbeit von Borofsky sehe: Wieviel Kraft die Figur hat! Und diese Figur ist nicht idealistisch-abstrakt, sondern normal – mit Hose und Jacke. Die Kraft, die in ihr steckt, ist viel größer als die, die wir haben, weil unsere Kraft durch die Belastungen der Welt verschüttet ist. Plötzlich aber ist die Kraft, die wir uns alle wünschen, durch die Figur wieder da.
Über welchen Beitrag freuen Sie sich am meisten?
Hoet (nach einigem Zögern): Marisa Merz, die mit ihrem Brunnen die Poesie des Südens in den Norden bringt. Und die Arbeit von Louise Bourgeois, die in einer Weintonne alles zusammenführt – Alchemie, Tod, Leben.
Gibt es etwas, worauf Sie verzichten mußten?
Hoet: Das sind acht Künstler, die nicht teilnehmen – zum Beispiel Sigmar Polke. Das ist wirklich schade, daß Polke nicht teilnimmt.
Und Warum?
Hoet: Weil meiner Meinung nach die ganze documenta mit seinem Werk eine große Übereinstimmung hat – beides steht für Einzelgängerpositionen. Es ist eine documenta, die nicht durch Codifizierungen belastet ist. Und genau das hat Polke schon lange in seiner Arbeit
die Abkehr von den Codes.
Warum wollte er nicht?
Hoet: Er hat auf die Einladung nicht geantwortet. Ich habe nur gehört, daß er gesagt haben soll: Laßt das andere junge Leute machen. Ich habe schon so viele Ausstellungen gemacht, mich kennen schon alle. Polke hat sich im Grunde nie mit einer Gruppenausstellung identifiziert. Das ist ein richtiger Einzelgänger. Was man zum Beispiel von Kounellis (der auch absagte) nicht sagen kann. Der hat sein eigenes Profil, aber ist kein Einzelgänger. Bei Polke weiß man nie, wie die Ausstellung wird, bei Kounellis aber kennt man schon die Atmosphäre.
Worin könnte die größte Leistung der documenta 9 für die Öffentlichkeit bestehen?
Hoet: In der persönlichen Auseinandersetzung mit der Kunst – weg von Begriffen und Codes. Der Beobachter erfährt, daß es um eine existentielle Auseinandersetzung geht – zwischen Wissen und Emotion. Der Besucher kann das autonom erfahren.
Welche Voraussetzungen sollte der normale Besucher mitbringen?
Hoet: Er sollte seine persönlichen Erfahrungen miteinbringen. Wenn er reist, sucht er die schönsten Orte auf. Aber wenn er im Alltag lebt, denkt er nicht, seinen Ort schön zu machen. Diese Diskrepanz ist komisch. Wir fahren nach Griechenland, besuchen die Akropolis, wir fahren an alle schönen Plätze der Welt und wir kommen zurück und leben weiter in unserer Mittelmäßigkeit. Wir gehen in eine Ausstellung von Cézanne und leben zu Hause weiter mit einem Perlenbild an der Wand. Beides erleben wir getrennt. Doch man muß beides miteinander verbinden – die Erfahrungen der mittelmäßigen Welt mit dem, was man im Leben sucht, den schönsten Ort, das schönste Bild, die schönste Erfahrung. Jeder hat eine Vorstellung entwickelt von dem, was er als das Schönste empfindet. Wenn der Besucher das kombiniert mit den Erfahrungen der alltäglichen Welt, dann glaube ich, daß er die Ausstellung richtig erleben kann.
HNA13. 6. 1992