Bilder durch Bilder erklären

Was bringt die documenta 9? Hier der Versuch einer ersten Bewertung.

Die documenta-Bilanz, die eine Nachrichtenagentur zieht, sieht düster aus. Deren Kritiker entdeckte nämlich keine Fingerzeige auf etwas Neues in Kassel. Stattdessen sah er hauptsächlich Fragwürdiges und Mißglücktes und „noch immer viel langweilig Monochromes“. In der Tat: Wer die Kasseler Kunstschau wie eine Kunstmesse durchläuft, ständig auf der Suche nach neuesten Trends und Hinweisen auf stilistische Entwicklungen, der muß Kassel unbefriedigt verlassen. Doch hat derjenige die Ausstellung in ihrer Struktur wahrgenommen? Kaum.

Aus dem täglichen Kunstbetrieb und von den Kunstmessen jüngster Zeit weiß man, daß die ständige Frage nach dem Neuen seit längerem schon mit der Kunstentwicklung nichts zu tun hat. Insofern begab sich Jan Hoet überhaupt nicht in Gefahr, am Markt vorbei die Ausstellung zu planen, als er sich vornahm nach den künstlerischen Individualitäten zu fragen, nach deren Kraft und Intensität.
Die vorige documenta war mit dem Anspruch angetreten, die Kunst in ihrem wiederentdeckten Verhältnis zur Gesellschaft zu spiegeln. Die Ausstellung litt dann aber darunter, daß einige Arbeiten diese These lediglich illustrierten. Der Belgier Jan Hoet hatte sich nun immer wieder den Vorwurf anhören müssen, er habe weder Kriterien noch ein Konzept. In seiner documenta jedoch erweist sich, daß ihn sein subjektives Empfinden und seine engagierte Auseinandersetzung mit den Künstlern zu einer Ausstellung inspiriert haben, in der Kunstwerke zu sehen sind, die in einen weit intensiveren Dialog mit der Gesellschaft treten, als es 1987 der Fall war.

Nur werden hier die Ängste, Wünsche und Empfindungen der Menschen nicht illustriert, sondern in Bilder und Räume umgesetzt. Die documenta 9 führt die Kunst der Gegenwart in ihrer faszinierenden Komplexität vor: Indem die Künstler Träume und Alpträume projizieren, reflektieren sie die Kunst und deren Geschichte, spielen sie mit den Möglichkeiten und Bezügen.

Wahrscheinlich hat es seit Harald Szeemanns Ausstellung im Jahre 1972 keine documenta gegeben, die so viele Außenseiter und Randfiguren unter ihrem Dach vereinigte. Die Extreme prallen aufeinander. Der Besucher durchläuft Wechselbäder der Gefühle. In der Begegnung mit der Kunst wird er auf sich und das Leben zurückverwiesen.

Vielleicht liegt darin die eigentliche Leistung der documenta 9: Daß sie Kunst aus ihrer rein ästhetischen Ecke herausholt und ihr in der Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft wieder eine Position zuweist, ohne sie vordergründig zu funktionalisieren. Kunst ist nicht bloß das Werk von Menschen, sondern hat mit den Menschen zu tun.

Wenn man das sieht, dann macht der Zwehrenturm als der „Turm der Heiligen“ auch Sinn. Das Louvre-Gemälde „Der ermordete Marat“ von Jacques Louis David steht eben nicht nur für die künstlerische Befreiung, sondern auch für die Art und Weise, wie Kunst eine gescheiterte Utopie spiegeln kann. Einzelgänger hat Hoet als künstlerische Ahnen in dem Turm vereinigt – Ensor und Gauguin, Beuys und Byars sowie den Maler René Daniels. Diese Ahnengalerie birgt nicht nur ein persönliches Bekenntnis, sondern sie verdeutlicht zudem Hoets Vorgehensweise – auch Bilder immer wieder durch Bilder zu erklären. Genau darin liegt die Kraft der Ausstellung.

HNA 13. 6. 1992

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