Chaos oder erkenntnisreiche Kunstschau? Nach dem Start der documenta 9 stellen sich kritische
Fragen an die Ausstellung, deren Besucher und Kritiker.
Nachdem es die ersten Verrisse in der überregionalen Presse hagelte und auch den ersten Massenansturm auf die Ausstellung gab, müssen sich alle, die in irgendeiner Weise an der documenta teilhaben, einer selbstkritischen Prüfung unterziehen. Die Kardinalfrage ist, ob überhaupt eine Ausstellung organisiert werden kann, die auf die unmittelbare und intensive Erfahrung durch die einzelnen Besucher setzt und die zugleich von den Besuchermassen lebt.
Bei einer Diskussion mit den beiden documenta-Leitern Harald Szeemann (1972) und Jan
Hoet (1992) sowie drei beteiligten Künstlern im Fridericianum zeigte sich, daß dieser Konflikt unaufhebbar ist. Szeemann brachte aus eigener leidvoller Erfahrung die Sache auf den Punkt: Die documenta ist die Ausstellung, bei der der Abnutzungseffekt am größten ist. Subtile Kunst hat es im Massenereignis schwer. Also ist jetzt schon voraussehbar, daß einzelne intime und fragile
Räume, die für die körperliche Erfahrung gedacht sind, bald nicht mehr durchlaufen, sondern nur noch eingesehen werden können. Wo ein Ereignis zur Attraktion wird, behindern sich die Besucher gegenseitig in der Wahrnehmung des Ereignisses.
Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Die andere ist die der Zeit und Geduld, die man für das Kunsterlebnis aufwenden muß. Jeder, der einmal die documenta-Ausstellungsorte durchlaufen hat, weiß, daß an einem Tag diese Kunstschau nicht zu erleben ist. Auch nach drei Tagen Vorbesichtigung haben die wenigen Kritiker, die sich dazu die Zeit genommen haben, noch nicht alle Räume und Installationen gesehen bzw. wirklich erfahren. Die Sensation einiger Beiträge liegt nämlich nicht in der bloßen Form, die man beim Vorübergehen registriert. Anderes erschließt sich erst, wenn man entsprechende oder gegenläuflge Arbeiten an anderer Stelle gesehen hat.
Das scheinbare Chaos, in das man im Museum Fridericianum hineintaucht, lichtet und
ordnet sich, wenn man einzelne Räume zusammenbringt und wenn man über das Gebäude hinausblickt. Der Fehler, dem viele Besucher und auch Kritiker erliegen, ist, daß sie in gewohnter Manier das Museum Fridericianum als den zentralen Ort begreifen, der von einigen Nebenschauplätzen umgeben wird. Doch erst durch das Zusammenspiel von Fridericianum, Ottoneum, documenta-Halle, Aue-Pavillons und Neuer Galerie erhält die Ausstellung wirklich eine Struktur. Die Neue Galerie als der Ort, an dem sich Künstler zur Kunst und zum Museum bildnerisch äußern können, ist in ihrer Kraft zum Antipoden des Museums Fridericianum geworden, aber auch zum Kontrapunkt der Aue-Pavillons.
Jan Hoet beklagte in der erwähnten Diskussion, daß das Fridericianum teilweise überfüllt sei, andere Gebäude wie das Ottoneum (Ort der Stille) aber kaum besucht würden. Die Grundidee der Ausstellung, so sieht es aus, hat sich noch nicht herumgesprochen.
Harald Szeemann, der natürlich in kritischer Distanz zu dieser documenta steht, ihr aber bescheinigte, sie habe die Dialektik der Kunst herausgearbeitet, hatte Trost für Jan Hoet bereit: Auch seine, die fünfte documenta habe in der Anfangsphase nur schlechte Kritiken erhalten. Heute gilt sie als eine der besten in der Kasseler Ausstellungsgeschichte.
HNA 15. 6. 1992