In einer lockeren Folge von Artikeln wollen wir einzelne Werke bzw. Bereiche der documenta 9 vorstellen. Wir beginnen heute mit zwei Außen-Beiträgen.
Unsere Städte sind verbaut. Die Straßen sind mit Schildern übersät und dort, wo sich ein freier Platz öffnen müßte, sehen wir uns Leitplanken, Tafeln und Absperrungen gegenüber. Die versperrte Sicht ist so vertraut, daß auch deren satirische Zuspitzung kaum erkannt, sondern als normale Realität hingenommen wird.
So geschieht es jetzt in Kassel auf dem Friedrichsplatz. Hier hat der in Düsseldorf lebende Japaner Yuji Takeoka am Ausgang einer Fußgängerunterführung eine öffentliche Skulptur aufgestellt, an der viele deshalb achtlos vorbeilaufen, weil dergleichen auf so einen Platz zu gehören scheint: Automaten und Eiswagen, Plakatwände und Pflanzenkübel, Absperrungen und Abgrenzungen
– alles hübsch in Reih und Glied aufgestellt.
Wer Takeokas Arbeit erkennt und durchschaut, nimmt sie mit einem Schmunzeln hin, obwohl sie ja unmißverständlich die Gewalt verdeutlicht, mit der unsere Welt im Alltag verbarrikadiert wird. In der Ordnungsstruktur ist die Zerstörung angelegt.
Eine Etage tiefer vergeht einem das Schmunzeln: In der gerade unter dem Friedrichsplatz fertig gestellten Tiefgarage hat die Amerikanerin Cady Noland in Zusammenarbeit mit Robert Nickas ein Szenario von Zerstörung und Gewalt entworfen. An dem Ort, an dem man hofft, das eigene Auto gut und sicher abzustellen, konfrontiert Cady Noland die Parker mit zwei Autowracks sowie Bild- und Texttafeln.
Der Künstlerin geht es aber nicht nur um den Gegensatz von heller und kaputter Autoweit. Sie holt weit und tiefgründig aus und nennt entsprechend ihre Arbeit Zu einer Metasprache des Bösen. Cady Noland entwirft das Bild einer Gesellschaft, in der Gewalt, Zerstörung und der Unfalltod im
Auto weder Zufälle noch Ausrutscher sind, sondern eingeplante Ergebnisse eines Spiels. Der individuelle Unfalltod auf der Straße, im schnellen Auto oder auf dem schmucken Motorrad, erscheint demnach als Teil einer bösartigen Inszenierung, als Variation des alten Heldenspiels.
Cady Nolands Arbeit erschließt sich nicht leicht. Der normale Tiefgaragenbenutzer wird den Zusammenhang von Schrottautos, Bildern, Schrifttafeln, Begrenzungssteinen und anderem Gerät kaum erkennen. Erschwert wird der Zugang zudem dadurch, daß die anspruchsvollen Texte, die sich über viele Tafeln in der Tiefgarage fortsetzen, in Englisch geschrieben sind. Allein im Katalog findet man die deutsche Übersetzung.
So werden möglicherweise viele Passanten gar nicht wahrnehmen, daß es hier nur vordergründig um das Auto als Fetisch geht. Die heutige Gesellschaft mit ihren selbstzerstörerischen Prozessen steht zur Diskussion.
HNA 18. 6. 1992