Die documenta und die Stadt

Auf welchem Boden entstand die documenta, was bewirkte und was bewegte sie? Zwei Ausstellungen arbeiten spannende Kapitel der Kasseler Stadtgeschichte auf.

Die 50er Jahre sind zu einer Art zweiten Gründerzeit verklärt worden. Was damals als einfallsreich oder verrückt galt, wird heute mit nostalgischem Blick betrachtet: die Leuchtreklame in Schreibschrift und der verdrehte Flaschenhalter, die Tütenlampen und der legendäre Nierentisch.

Auch dies alles ist in der von Christian Bromig und Alexander Link erarbeiteten Ausstellung „Kassel 1955“ im Stadtmuseum zu sehen. Ja, in einer Abteilung ist eine ganze Sammlung jener verschroben geformten bis stromlinienförmigen Wirtschaftswunderprodukte zu bewundern, die heute bei den Älteren ein anrührendes Schmunzeln hervorrufen. Gleichwohl ist dies keine nostalgische 50er-Jahre-Schau geworden. Die Brezelständer und der Motorroller bilden vielmehr den schmückenden (und passenden) Rahmen für die kritische Untersuchung der Frage, auf welchem Boden sich denn
der Kasseler Aufbruch von 1955 vollzogen habe.

Wer zur Nostalgie vordringen will, muß durch die harte Wirklichkeit hindurch: Um in die eigentliche Ausstellung zu gelangen, müssen die Besucher einen dunklen Gang passieren, in dem an das zerstörte Kassel, an die Folgen des Bombenkrieges und an die Not und Improvisationskunst der Nachkriegszeit erinnert wird. Der selbstgefertigte Kaffeeröster und das aus einem Stahlhelm hergestellte Küchensieb stehen für jene düsteren Jahre.

Den Ausstellungsorganisatoren ist mit diesem Entree eine außerordentlich eindringliche Inszenierung gelungen. Der dunkle Zugang illustriert nicht bloß, was der Zeit der 50er Jahre vorausging, sondern er stellt auch die unmittelbare Verbindung zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit her. Denn genau darum geht es den Autoren – sichtbar zu machen, wie stark die Pläne für den Neuaufbau Kassels durch Vorstellungen und Personen gesteuert wurden, die bereits in der Nazizeit wirksam gewesen waren.

Die Ausstellung macht eine merkwürdige Kontinuität in der Planungsgeschichte bewußt und sie zeigt (verstärkt durch den Katalog), daß die Idee, die Altstadt nicht wiederaufzubauen, keine Nachkriegsgeburt war, sondern noch vor der Zerstörung der Stadt bei der Arbeit an den Entwürfen für eine Gauhauptstadt entstanden war.

Ausstellung und Katalog tragen wesentlich zur Aufarbeitung der jüngeren Stadtgeschichte und auch zur Identitätsfindung der Stadt bei. Einerseits würdigen sie das Jahr 1955 als den Einschnitt, der für einen mehrfachen Neubeginn steht: Die Neugestaltung der Innenstadt war zu einem ersten Abschluß gebracht worden, außerdem hatten in Kassel die Bundesgartenschau und die documenta Premiere. Die documenta, heute Anlaß für die Ausstellung im Stadtmuseum, war damals eine Art kulturelles Beiprogramm zur Bundesgartenschau; und diese war Motor für den Innenstadtaufbau.

In acht Kapiteln wird der Weg aus den Ruinen hin zum Weltereignis documenta nachgezogen. In Plakaten, Fotos und Zeitungsdokumenten (sehr schön in einer Dia-Schau im 50er-Jahre-Minikino) wird an die von Kommunistenfurcht überschattete Aufbruchstimmung erinnert und es werden die Widersprüche sichtbar gemacht, die uns heute noch beschäftigen: Vorbildliche 50er-Jahre-Bauten auf der einen Seite, Vernichtung erhaltener Stadtstrukturen auf der anderen, moderne Großzügigkeit hier, abweisende Weite und Leere dort, beispielhafte Fußgängerzone und fußgänger-feindliche Verkehrsplanung.

Eine äußerst lehrreiche Schau, die auf dem sehr gedrängten Raum geschickt mit inszenatorischen Zitaten arbeitet. So entsteht auf wenigen Quadratmetern ein Eindruck von der Atmosphäre, die Arnold Bode 1955 bei der documenta in das Museum Fridericianum gezaubert hatte.

Umgang mit Skulpturen

Die gleiche Kunst der andeutenden Inszenierung beherrscht Harald Kimpel, der in Neuen Galerie ebenfalls ein Stück Stadtgeschichte aufgearbeitet hat. Kimpels Schau weist zugleich über Kassel hinaus, weil in ihr exemplarisch anhand einiger Außenskulpturen zur documenta der Umgang der Öffentlichkeit mit Kunst im Stadtraum vorgeführt wird. Die Geschichte der lautstarken Auseinandersetzungen begann mit Christos verpackter Luft zur documenta von 1968 und sie endet sicherlich noch nicht mit dem Streit um die Nutzung des Ehrenmals. Unter dem Titel „Aversion -Akzeptanz“ läßt Kimpel anschaulich werden, welche Kräfte der Streit um Kunst im öffentlichen Raum freisetzen kann. Zu einer besonderen Zuspitzung war es gekommen, als 1977 Serras „Terminal“ auf dem Friedrichsplatz aufgestellt worden war und gleichzeitig das Loch für Walter de Marias „Erdkilometer“ gebohrt wurde.

In vier Kapiteln führt Kimpel vor, wie unterschiedlich die Reaktionen ausfallen können:
Während Serra und de Maria Proteststürme hervorriefen, wurden Claes Oldenburgs
„Spitzhacke“ und Horst Baumanns Laser-Environment bald zu Publikumslieblingen. Hingegen wandelte sich im Fall von Joseph Beuys‘ „7000 Eichen“ das Meinungsbild – aus Ablehnung wurde Zustimmung. Nicht ganz richtig ist allerdings der Versuch, Kirkebys Backsteinskulptur von 1982 ebenfalls unter der Rubrik „Gewöhnung“ einzuordnen. Von der Öffentlichkeit war der Bau kaum wahrgenommen worden; der Streit um Erhalt oder Abriß wurde fast nur in der Politik- und Kunstszene geführt.

Beide Ausstellungen bereichern das documenta-Angebot beispielhaft. Wer etwas zum Entstehen und zu den Wirkungen der Kasseler Kunstschau erfahren will, kann an ihnen nicht vorübergehen.

„Kassel 1955, Stadtmuseum, Ständeplatz 16, bis 13. Dezember, Katalog 104 Seiten, Jonas Verlag, 25 Mark.
„Aversion — Akzeptanz“, Neue Galerie, Schöne Aussicht, bis 20. September, Katalog 128 Seiten, Jonas Verlag, 24 Mark.

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