Der ausgesperrte Besucher

Eine offensive und aggressive Auseinandersetzung mit dem Museum führen mehrere documenta-Künstler in der Neuen Galerie in Kassel.

Steigt man die zentrale Treppe in der Neuen Galerie nach oben, läuft man im ersten Stock förmlich vor eine braune Holzwand. Sie versperrt den Zugang zu dem Hauptausstellungsraum der Gegenwartskunst. In der Holzwand ist ein Tor zu erkennen, doch auch dies ist verschlossen. Lediglich eine Luke läßt sich öffnen. Durch sie kann man einen neugierigen Blick auf den Spiraltisch von Mario Merz und die Adler-Bilder von Georg Baselitz werfen.

Das Museum als Peep-Show – man sieht das Museums-Arrangement, aber man erreicht es nicht. Das stimmt nicht ganz, denn über die Seitengalerien kann man sehr wohl in diesen Saal vordringen. Doch hier wird die Museums-Präsentation erst einmal zum Bild, das man aus Distanz betrachtet. Die
Besucher müssen innehalten: Wie wirkt diese Inszenierung? Und was ist der Unterschied zur
Ausstellungsstruktur der documenta?

Der in Brooklyn lebende Haim Steinbach hat diese Wand errichten lassen. Sie erscheint freundlich und (mit dem Guckloch) witzig im Gegensatz zu der weißen Wand, mit der der Österreicher Heimo Zobernig in der Seitengalerie drei Kabinette total abgesperrt hat. Wer nicht mindestens zwei Meter groß ist, kann nicht erkennen, welche Gemälde dort verborgen sind. Das vernagelte Museum? Die reine Provokation?

Provokation ist sicher im Spiel, denn die gezielte Gemäldeauswahl wird zunichte gemacht. Aber es ist auch mehr als Provokation: Zobernig schiebt vor die Gemälde des 19. Jahrhunderts sein eigenes Werk – eine weiße Wand. Die absolute Leere wird gegen die Fülle gesetzt, an Stelle der Bilder
ist die Bildverweigerung zu sehen.

Gewiß wird es vielen Besuchern schwer fallen, in Zobernigs Wand einen Ansatz zum Dialog mit dem Museum zu sehen oder gar in ihr ein autonomes Kunstwerk zu erkennen. Trotzdem erschöpfen sich Steinbachs und Zobernigs Beiträge nicht in der aggressiven Geste. Die Versperrungen bringen die Besucher zwangsläufig dazu, das Museum neu zu erleben, mit offeneren Augen durch die Räume zu gehen und über das Museum und seine Bilder nachzudenken. Dabei kann man, wie es vielen Besuchern geht, durchaus in Widerspruch zu documenta-Künstlern geraten – etwa bei Zoe Leonard, die mit Vagina-Fotos, die zwischen liebliche Frauenporträts gehängt sind, den Männerblick in der traditionellen Kunst vorführen will.

Jan Hoets Genter Ausstellung „Chambres d‘amis“ (Zimmer der Freunde), bei der Künstler Arbeiten für Privatwohnungen entwickelten, war das Vorbild für die Nutzung der Neuen Galerie durch die documenta: Kunst kommentiert Kunst sowie den Ort, an dem sie präsentiert wird. Der Amerikaner Joseph Kosuth geht nicht weniger radikal mit der Sammlung um als Zobernig, doch seine beiden Passagen (Seitengalerien), in denen durch schwarze bzw. weiße Tücher alle Bilder und Skulpturen verhängt sind, wirken zuerst poetisch. Die schwarz-weißen Passagen sind zu Bildräumen geworden, in denen man dank der auf die Tücher aufgetragenen Zitate von Wittgenstein bis Goebbels zum Nachdenken über das Leben und die Kunst eingeladen wird.

Der Dialog mit dem Museum findet durchaus statt: Kazuo Katase versperrt zwar auch eine Bilderwand, doch er begnügt sich nicht damit. Sein Kubus mit dem fahlen Licht stellt die Frage, was denn im Nachtmuseum zu sehen sei. Philip Rantzer hingegen setzt dem Gemäldeschinken aus dem Depot auf einem kaputten Sofa eine runde Figur (die Welt?) als primitiven Malautomaten entgegen, und Braco Dimitrijevic deutet mit seiner Weinflaschen-Inszenierung an, daß das Gemälde als Poesie-Entwurf nicht reicht. Allein zwischen den faszinierenden Fotografien von Angela Grauerholz und Gemälden des 19. Jahrhunderts entwickelt sich ein rundum harmonischer Dialog. Fotokunst und Mal- kunst korrespondieren hier auf eine anrührende Weise. Schon heute gilt Angela Grauerholz als eine der Entdeckungen der documenta 9.

HNA 1. 7. 1992

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