Die Utopie ist zerbrochen

Utopieverlust und der verfolgte und gequälte Mensch – zwei Leitmotive der documenta 9.

In nahezu allen Berichten und Kritiken über die documenta 9 wird in plastischen Bildern das Eingangsszenario des Museums Fridericianum beschrieben: Bruce Naumans Video-Installation mit den Mehrfachprojektionen des sich drehenden Männerkopfes und mit den schmerzhaften Schreien, die an militärischen Drill ebenso denken lassen wie an Folterungen. Der gequälte Mensch schreit: feed me, help me, eat me, hurt me, Sociology, Anthropology (fütter mich, hilf mir, iß mich, verletze mich, Soziologie, Anthropologie). Eingebettet ist dieses Drama, dessen Rufe einen noch in anderen Räumen verfolgen, in ein Ameisen-Inferno, mit dem der Österreicher Peter Kogler den Umraum tapezierte.

Kaum jemand geht ungerührt durch diese Installation hindurch. Bruce Nauman, von documenta-Leiter Jan Hoet schon vor drei Jahren zur Leitfigur erkoren, stimmt auf die documenta und die Kunst von heute ein. Dies wird von vielen Kritikern noch akzeptiert. Nur weigern sich die meisten, mit Jan Hoet und den von ihm ausgewählten Künstlern den Weg konsequent weiterzugehen. Es ist, als sträubten sie sich dagegen, durch die Werke persönlich herausgefordert zu werden, als hätten sie Angst, ihre kühle Betrachter-Distanz aufzugeben.

Die Frage ist: Hat sich Jan Hoet verkalkuliert, als er so stark auf die Künstler setzte, die mit ihren Werken unsere Gefühle freisetzen? Sind die Künstler nicht typisch für unsere Zeit? Oder sind viele der Kunst-Betrachter nicht darauf vorbereitet, so sehr mit der Welt und sich selbst konfrontiert zu werden?

Nun hat Jan Hoet niemals für sich in Anspruch genommen, die internationale Kunstszene objektiv zu spiegeln. Von Anfang an reklamierte er für sich die subjektive Auswahl. Die Intensität der künstlerischen Arbeit war für ihn das Kriterium. Dementsprechend forderte er vom Betrachter nicht theoretisches Wissen als Voraussetzung, sondern die persönliche Erfahrung. So begreift er die documenta als eine „bewußte und persönliche Stellungnahme zu unserer Zeit“.

Damit geht Hoet gewiß am Markt und den Mechanismen des Kunstbetriebes vorbei. Insofern wäre auch eine ganz andere, eine museal gereinigte documenta denkbar, an der die bekannten Kategorien der heutigen Kunst ablesbar würden. So wie Jan Hoet polarisiert, so polarisiert auch seine Ausstellung. Sie läßt nicht gleichgültig. Deshalb stimmt der Vorwurf der Beliebigkeit auch nicht: Gerade weil die Bilder, Objekte und Installationen auf immer neue Weisen den Bezug zur Welt herstellen, ist die Schau in sich entschieden. Die documenta spart zwar das rein Ästhetische nicht aus, sie gibt aber der Kunst ihre ganz unmittelbare gesellschaftliche Funktion zurück.

In die Reihe seiner Doppelwörter auf dem Zwehrenturm hat Lothar Baumgarten das Wort „Utopieverbot“ aufgenommen. Es ist wie ein Signal. Die Utopie ist zerbrochen. Davids Gemälde des ermordeten Marat im Inneren des Turmes steht ebenso dafür wie zahlreiche Arbeiten zeitgenössischer Künstler: Das, was wir gern verdrängen würden, dringt nun wie verstärkt auf uns ein. Wir können den Bildern des vereinsamten, gequälten und verfolgten Menschen nicht ausweichen. Francis Bacon, der Nestor der englischen Malerei, der nur wenige Tage vor dem documenta-Start starb, hat mit seinen für die documenta ausgewählten Gemälden geradezu ein
Programm hinterlassen: Der deformierte Mensch scheint sich in einer hochästhetischen Malerei zu verlieren. Das gelegentlich aufscheinende Porträt wirkt wie eine ferne Erinnerung an die verlorene Persönlichkeit.

Bilder des Leidens, eine Tonart spielerischer und vielfach gebrochen, findet man auch bei Jimmie Durham. Mike Kelley hingegen scheint eine Riesenspielzeuglandschaft entworfen zu haben, die bei näherem Hinsehen aus Schlachttischen und Isolier- und Folterkammern besteht. Alptraumhafte und dabei poetische Raumbilder auch von Louise Bourgeois und Thierry de Cordier. Immer wieder sieht man sich den bedrückenden Erinnerungen ausgesetzt – oder der Gewalt der Maschinen.

Selbst da, wo man sich aus der Umklammerung befreit sieht, entgeht man nicht der Erinnerung an die Vergangenheit: In Vera Frenkels Transit-Bar glaubt man sich bei Klavierklängen und kleinen Getränken erholen zu können. Doch die alten Mäntel und Koffer in den Ecken und die Video-Einspielungen projizieren Emigranten-Schicksale in den Raum. Es gibt keine Flucht aus der Welt und vor ihren bedrückenden Problemen.

HNA25. 6. 1992

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