Eine Sammlung ohne eigenes Haus

Die Ankäufe aus der documenta für Kassel machen einen Fehlbstand sichtbar

Die 1976 in Kassel eröffnete Neue Galerie ist als ein Kunstmuseum gedacht, das bis in die aktuelle Gegenwart führt. Ein Geburtsfehler aber war, dass erst 1982 zaghaft begonnen wurde, für die Neue Galerie Kunstwerke aus der jeweiligen documenta zu erwerben, um so am Ort der international bedeutsamen Ausstellung deren sich wandelndes Kunstverständnis zu spiegeln. Doch auch das, was angekauft wurde, war nicht immer typisch für die betreffende documenta. Oft war die Auswahl eher am Sammlungsprofil der Neuen Galerie orientiert, das auf die konkrete Malerei und die Skulptur ausgerichtet ist. Künstlerische Werke, die sich der neuen Medien bedienen, kamen nur ausnahmsweise in die Neue Galerie, in der die staatlichen und städtischen Sammlungen seit 1770 vereinigt sind.
Dieser Kurs könnte sich mit den Ankaufsentscheidungen nach der documenta 12 grundsätzlich ändern. Zwar will das Land Hessen erst im kommenden Jahr endgültig entscheiden, doch kann als sicher angenommen werden, dass Hito Steyerls aus drei Bildschirmen bestehende Videoarbeit „Red Alert“ (Alarmsignal) und Andrea Geyers Fotoserie „Spiral Lands“ angekauft werden.
Dabei ist das Votum für die Steyerl-Arbeit besonders spannend, weil in ihr auch eine Kritik an der konkreten (monochromen) Malerei steckt, die in der Neuen Galerie besonders reich vertreten ist. Im Aue-Pavillon hielten viele Besucher die drei rechteckigen Tafeln mit ihren rot-orange leuchtenden Flächen für ein weiteres Beispiel monochromer Malerei (neben den Werken von John McCracken und Gerwald Rockenschaub). Doch beim Herantreten erkannten die Besucher, dass sie Bildschirme und nicht Leinwände vor sich hatten. Auch spürten sie die Projektionswärme.
Zum Verständnis ihrer Arbeit hat Hito Steyerl in einem Essay den Weg selbst gewiesen. In ihm bezog sie sich auf die Entwicklung der monochromen Malerei im 20. Jahrhundert. Die Monochromie kann ihrer Meinung nach beides sein – das Ende der Kunst oder als reines Gefühl der Neuanfang von Kunst. Vordergründig kann man Steyerls „Red Alert“ als die Überwindung der gemalten durch die elektronisch projizierte Monochromie deuten. Doch die Österreicherin denkt weiter, nämlich politischer. Sie hat, wie sie in ihrem Essay darlegt, erkannt, dass sich Politik und Polizei in unserer Zeit der monochromen Bildsprache bemächtigen und sie im alltäglichen Kampf einsetzen. Rot und Orange werden zu Warn- und Terrorfarben. „Red Alert“ führt also direkt von der ästhetischen zu der politischen Auseinandersetzung. Hito Steyerls Arbeit ist also weit explosiver und politischer als die Arbeiten, die ganz augenfällig politische Gefühle und Stimmungen bedienen.
Das größte Werk, das die Stadt Kassel und das Land Hessen aus der documenta 12 ankauften, ist Romuald Hazoumés Installation „Dream“. Es handelt sich um eine Arbeit, die von Anfang an das Publikum faszinierte und auch den Beifall der Experten erhielt. Für sein Werk, das sich mit den afrikanischen Bootsflüchtlingen beschäftigt, erhielt Hazoumé den Arnold-Bode-Preis. Ein Großfoto zeigt einen Traumstrand, wie er in Reiseprospekten zu sehen ist. Da wollen die Europäer hin. Doch das vor dem Bild liegende Boot, das aus 421 Ölkanistern gefertigt ist, verbildlicht eindringlich, dass das scheinbare Ferienparadies für viele Afrikaner keine Lebensperspektiven bietet. Sie riskieren lieber den Tod im Meer, als dass sie in dem Land bleiben wollen. Jeder der ausgeschnittenen Kanister symbolisiert ein Gesicht und das Leid eines Flüchtlings.
Inhaltlich passt sehr gut dazu die ebenfalls angekaufte Fotoserie „Oil Rich Niger Delta“, in der George Osodi mit Hilfe eindrucksvoller Bilder zeigt, wie die Nigerianer in Dreck und Armut und Gewaltdrohungen leben müssen, während der Ölreichtum aus ihrem Boden herausgeholt wird.
Der Zufall wollte es, dass nahezu zeitgleich die Entscheidung fiel, Ecke Bonks Installation „Book of Words – Random Reading“ aus der Documenta11 für die Neue Galerie zu erwerben. Die Ankaufsbemühungen sind fünf Jahre alt. Doch erst fand man in Kassel keinen Träger (und Ort), der die dreiteilige Video-Installation zum Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zu übernehmen bereit war, dann wurde man mit dem Künstler nicht handelseinig. Nach einem neuen Anlauf wurde nun eine Einigung erzielt. Damit gewinnt Kassel nicht nur ein Werk, das 2002 große Aufmerksamkeit und Anerkennung fand, sondern auch eine Arbeit, die direkt mit der Stadt zu tun hat. Denn Jacob und Wilhelm Grimm begannen ihre Arbeiten am Wörterbuch, als sie als Bibliothekare im Fridericianum in Kassel arbeiteten.
Durch diese Ankäufe verändert sich der Charakter der Sammlung in der Neuen Galerie beträchtlich. Auch beanspruchen die Arbeiten von Hazoumé und Bonk sehr viel Raum. Doch im Moment gibt es überhaupt keinen Raum dafür, denn mit dem Auszug der documenta aus dem Museumsgebäude sollten die Sanierung und der Umbau der Neuen Galerie beginnen. Das heißt, dass die documenta-Erwerbungen in den nächsten zwei Jahren nicht zu sehen sein werden, es sei denn, man würde provisorische Ausstellungsflächen in der documenta-Halle oder im Fridericianum finden.
Dahinter verbirgt sich aber eine viel brisantere Frage: Was passiert mit den Ankäufen und mit etlichen sonst ins Depot verbannten documenta-Werken, wenn die Neue Galerie wieder eingerichtet wird? Nach dem letzten Stand der Planungen sollte nämlich die Neue Galerie ihren Charakter als ein Museum, das vom Hofmaler und Akademiedirektor Johann Heinrich Tischbein bis in die Gegenwart führt, behalten. Angesichts einer solchen Breite wäre kaum Platz für Kunst der letzten 50 Jahre. Das bedeutet: Entweder muss das Konzept für die Neue Galerie überarbeitet werden, damit sie zu einem Museum der Moderne werden kann, oder außerhalb der Neuen Galerie muss eine zeitgenössische Sammlung mit dem Schwerpunkt documenta angelegt werden. Die jetzt getroffenen Ankaufsentscheidungen zwingen zur Neuplanung.

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