Fremde Gefühle

Gülsün Karamustafa: Memory of a Square“
Kunsthalle Fridericianum 12. April- 14. Mai 2006
Seit René Block die türkische Künstlerin Gülsün Karamustafa (Jahrgang 1946) in seiner ersten Kasseler Ausstellung “Echolot” (1998) bekannt machte, ist deren Werk in Deutschland mehrfach vorgestellt worden. Vor allem Block selbst ermöglichte in der Kunsthalle Fridericianum wiederholt Einblicke in das Schaffen der in Istanbul lebenden Künstlerin, die ein großes Gespür für verborgene Konflikte in ihrer Gesellschaft besitzt. Unter dem Titel „Memory of a Square“ stellte Karamustafa jetzt in Kassel ihre seit 2000 entstandenen Videoarbeiten vor.
Die Auseinandersetzung mit den Ausländern findet in Deutschland unter merkwürdigen, sehr eingegrenzten Bedingungen statt. Wir sehen die Türken vorwiegend als Menschen, die auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen in unser Land kamen und die unserer Gesellschaft nun Probleme bereiten, weil längst nicht mehr alle, die hierher verschlagen wurden, Arbeit haben und weil wir nicht darauf vorbereitet sind, uns auf ihre andere Kulturzugehörigkeit einzustellen. Auf der anderen Seite holen sich viele Haushalte Hilfe von Frauen aus Polen und Tschechien, die als billige und meist illegale Arbeitskräfte in unser Land einreisen.
In ihrer Videoarbeit „Unawarded Performances“ lenkt Gülsün Karamustafa den Blick darauf, dass die Türkei ihrerseits ganz ähnliche Probleme hat: In Südmoldavien leben türkischstämmige Familien, die der orthodoxen Kirche angehören. Sie waren großem Druck ausgesetzt und materiell in die Enge getrieben worden, so dass viele Frauen als Hausmädchen illegal nach Istanbul gingen. Doch sie sind dort genauso fremd wie in dem Land, aus dem sie stammen.
In ihrem Video lässt Karamustafa die Frauen erzählen. Es sind dokumentarische, fast leidenschaftslose Interviews, die jedoch erschütternd wirken, weil sie sichtbar machen, welche Bruchlinien unter der Oberfläche des Alltags verlaufen. Das Fremdsein im eigenen Land behandelt Karamustafa gleich mehrfach. Für die Arbeit „The Settler“, in der es um Menschen geht, die während der Balkankriege zwangsumgesiedelt wurden, hat sie eine faszinierende ästhetische Lösung gefunden: In der Ecke eines Raumes projizierte sie auf die beiden aneinander stoßenden Wände zwei Filme. In beiden war je eine Frau zu sehen, die eigentlich nicht in die Umgebung passt – die eine, europäisch gekleidet, agiert vor einer Kulisse, die von einer Moschee beherrscht wird, die andere, mit Kopftuch bedeckt, ist vor einer südeuropäischen Berglandschaft zu sehen. Man braucht keinerlei Kommentare, um dieses Ausgesetztsein in der Fremde zu verstehen. Wenn am Ende die Frauen von einem Bild ins andere wechseln, scheint sich ein Traum zu erfüllen.
Wohltuend an der Ausstellung ist, dass Karamustafa für jede ihrer Arbeiten eine eigene Präsentationsweise fand. In der Installation „Men Crying“ wurden parallel drei Filme auf drei Wände projiziert, in denen ein Tabu berührt und gebrochen wird: Männer, die verlassen worden sind, werden in ihrer Verzweiflung hilflos und beginnen zu weinen. In dem Fall verlässt Karamustafa die dokumentarische Ebene. Für die kurzen Filme hat sie Schauspieler engagiert, die das vorführen, was in der türkischen Öffentlichkeit als undenkbar erscheint. Nicht immer können wir mit unserem mitteleuropäischen Blick die Dimensionen des Tabubruchs erfassen. So nehmen wir die freizügige Modenschau („Tailor Made“) von Sängerinnen und Bauchtänzerinnen eher als eine Unterhaltung auf. Doch die Arbeit, bei der drei Bildsequenzen übereinander projiziert werden, steckt voller Explosivstoff. Zwar leisten die Sängerinnen und Bauchtänzerinnen in der Gesellschaft eine willkommene und notwendige Arbeit, ihre Existenz wird aber gern ausgeblendet. So ist die Video-Installation, die sich originalen Filmmaterials bedient, ein Manifest, mit dem die Frauen ihr Recht und ihre Anerkennung fordern.
Immer wieder gelingt es Karamustafa, ins Bewusstsein zu holen, was gerne verdrängt wird. Die Arbeit, die der Ausstellung den Titel gab, macht das auf eindringliche Weise verständlich: Auf einer Wand sind zwei parallel laufende Filme zu sehen. In dem einen sieht man Familienszenen aus einer Wohnung. Es ist gut beobachteter, im Grunde aber nichts sagender Alltag. In dem anderen Film werden dokumentarische Fotos und Sequenzen gezeigt, die historische Ereignisse auf dem Taksim-Platz in Istanbul schildern – Demonstrationen, blutige Schlachten, feierliche Aufmärsche und Denkmals-Enthüllungen. Anhand der Bilder von diesem Platz wird die wechselvolle Geschichte eines ganzen Volkes ablesbar.
Die Szenen aus der Familie verraten wenig von der Trauer und der Freude über die Ereignisse. Die Erschütterungen greifen nicht über. So scheinen die Bilder die schlichte Feststellung zu belegen, dass das Leben, gleich was passiert, seinen Gang geht. Die Arbeit lässt aber auch erahnen, dass die Plätze und Ereignisse austauschbar sind.
Eine ihrer Vielfalt und gesellschaftlich-politischen Brisanz bemerkenswerte Ausstellung. Der Essay von Barbara Heinrich im Katalog bewahrt die Erinnerung an diese kraftvollen Arbeiten.
Gülsün Karamustafa: Memory of a Square, Kunsthalle Fridericianum, Kassel, 68 S., 8 Euro.

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