Vom Wort zum Bild und umgekehrt

Gerhard Rühm: „weit weg und ganz nah“ und Endre Tót: „Semmi sem Semmi“ in der Kunsthalle Fridericianum, Kassel

Die Wurzeln sind lang, sie reichen 30, 40 Jahre zurück. Umso erstaunlicher ist, wie frisch und heiter die Werke heute wirken. Nur eines ist auf der Strecke verloren gegangen – die Provokation. In einer Zeit, in der alle Grenzen überschritten sind und die Toleranz unendlich groß zu sein scheint, haben sich auch die Reibungspunkte abgeschliffen.
Kassels Kunsthallendirektor René Block hat das Werk des Ungarn Endre Tót (Jahrgang 1937) schon verschiedentlich präsentiert. Zumeist stellte er Tóts Arbeiten in den Zusammenhang der Fluxus-Bewegung. In die passt er gut hinein, auch wenn er anfangs nur mit Hilfe der Mail-Art aus seiner ungarischen Isolation an der Bewegung teilhaben konnte. Besser zu verstehen ist er aber, wenn man ihn in die Nähe der Bild- und Sprachpoeten Timm Ulrichs oder Joan Brossa stellt.
Der spannendste Teil der Tót-Ausstellung ist nur zu erahnen. Es handelt sich um kleine Hefte aus der Frühzeit der 70er-Jahre (der Begriff Künstlerbücher wäre zu hoch gegriffen), die in einer Vitrine gezeigt werden. Tót hatte sich bis dahin als abstrakter Maler versucht. Aber angesichts des fehlenden Austausches zog er einen Schlussstrich, um die Leere, die er empfand, zu thematisieren. Er schuf abwesende, nicht vorhandene, ungemalte Bilder in Form von reinen schwarzen und weißen Flächen. Den gleichförmigen Bildern gab er aber Titel und genaue Beschreibungen mit auf den Weg. Diese Spannung erzeugt den eigentlichen erkenntnisreichen Genuss.
Da er weder den Platz noch das Material noch die Kunden hatte, begnügte er sich mit Ideenskizzen dieser ungeborenen Bilder. In den katalogartigen Heften stellte Tót die Bilder vor, die auch eine Reaktion auf die an ihr Ende gekommene Abstraktion waren. Erst 15, 20 Jahre später, als er nach Deutschland übergesiedelt war, konnte der Ungar den Ideen richtige Gestalt geben und sie in Bilder umsetzen. Die leeren schwarzen und weißen Bilder mit Titeln wie „Dada-Messe in Berlin“ oder „Die nackte Maja“ bilden den Schwerpunkt der Werkschau, die René Block und Barbara Heinrich Tót unter dem Titel „Semmi sem Semmi“ (Nichts ist nicht Nichts) eingerichtet haben.
Die Ausstellung funktioniert, weil die Besucher merken, wie sie selbst die Bilder ausschmücken. Die Paradoxie ist für den in Köln lebenden Ungarn zum Werkprinzip geworden. Das gilt für seine Zero-Bilder genauso wie für seine Aktionen, in denen er auf Transparenten verkündete „Wir freuen uns, wenn wir demonstrieren können“. Aber in den Dokumentationen der Aktionen zeigt sich auch, wie sich die Protestformen erschöpft haben. Tót nimmt die Alltäglichkeiten beim Wort und irritiert auf diese Weise mit Widersprüchen, die sich in der Sinnverdrehung auflösen.
Diese Werkschau wird hervorragend ergänzt durch die Zeichnungen und Collagen des um sieben Jahre älteren Gerhard Rühm, der als Mitbegründer der Wiener Gruppe in den 50er-Jahren über die Musik und Literatur zur Kunst kam. Noch heute gilt Rühm vornehmlich als Literat. So ist er bisher ausschließlich mit Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Dabei drängt er das Wort und die Schrift von jeher zum Bild. Mal transformiert er die Sprachbilder in gestalthafte Form, dann entwickelt er aus dem Schriftzug eine sich verselbständigende Zeichnung, und schließlich collagiert er zerschnittene Bilder in der Weise, dass Versformen entstehen.
Es sind stille poetische Bilder, deren Sprengkraft man erst dann erkennt, wann man sieht, wie Rühm mit den Erwartungen des Publikums spielt. Bis heute greift er gern auf erotische und pornografische Bilder zurück, um sie in seinen Collagen zu verwenden. Er schneidet allerdings die anstößigen Bilder so zu, dass sie das eigentlich Provozierende aussparen und so die Fantasie der Betrachter herausfordern. Daneben sieht man Reihen, in denen Rühm Texte und expressive Zeichnungen auf Notenblättern niedergeschrieben hat, so dass sie unversehens einen musikalischen Rhythmus gewinnen.
Rühm stellt sich in der Ausstellung als ein Grenzgänger vor, der eine Brücke von den Aktionen der Wiener Gruppe zur Bildpoesie und zum Fluxus schlägt. Zu seinen spannendsten Arbeiten gehören die Zeichnungen, in denen er die Möglichkeiten dieses Mediums ausprobiert hat. So versuchte er, auszutesten, wie sich Schriftbilder ergeben können, wenn er gleichzeitig mit zwei Stiften in einer Hand schrieb. Auf diese Weise entstand unter anderem das Titel gebende Blatt „weit weg und ganz nah“. Dann wieder ließ er aus dem Niederschreiben eines Wortes eine mit Schwung gezeichnete Linie entstehen, die ihren eigenen Gesetzen gehorchte.
Ganz überraschend begegnet man auch rein malerischen Bildern, in die Rühm einzelne Fotos montiert hat. Sein Werk präsentiert sich als ein eigener Bilderkosmos, der sich bescheiden gibt, aber gewaltig ist.

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