Chronos & Kairos

Die Zeit in der zeitgenössischen Kunst – Museum Fridericianum, Kassel

Gleich zwei Ausstellungen im Kasseler Museum Fridericianum widmeten sich im Herbst 1999 dem Thema, das kurz vor dem Sprung ins Jahr 2000 alle Köpfe beschäftigte: Was sagt die Kunst zur Zeit? Dafür, dass die beiden Kasseler Projekte zwar aufeinander abgestimmt waren, aber nicht auf einem Konzept beruhen, spricht die Tatsache, dass der Teil, der das kulturhistorische Vorwort hätte sein können, nicht vorweg ging, sondern hinter her kam: Unter dem Titel „Geburt der Zeit“ wird vom 12. Dezember bis 19. März an Hand unterschiedlichster Objekte (Messinstrumente eingeschlossen) dokumentiert, wie sich die Begrifflichkeit von Zeit herausbildete und wie sich die modernen Zeitvorstellungen entwickelten. Die Kunst übernimmt in dieser Ausstellung, deren Zustandekommen vornehmlich auf der Zusammenarbeit der Geldgeber Wintershall (Kassel) und Gazprom (Moskau) beruht und die deshalb einen umfangreichen deutsch-russischen Austausch einschließt, eine mehr illustrative Rolle. Den einen Schwerpunkt der von den Staatlichen Museen Kassel organisierten Schau bilden die künstlerischen Zeugnisse der für die christliche Welt entscheidenden Zeitenwende (Christi Geburt), einen anderen die Werke, die zu Anfang des Jahrhunderts die Beschleunigung und die Bewegung zu spiegeln versuchten.
Richtig spannend wird die Beschäftigung mit der Kunst unter dem Zeit-Aspekt allerdings erst in dem Moment, in dem nicht nur Zeit und Vergänglichkeit thematisiert werden, sondern in dem die Künstler den Zeitverlauf zu einem Teil ihrer Arbeit werden lassen oder in dem unser auf Stunden und Sekunden programmiertes Denken unterlaufen. Während Schöpfer von langsam wachsenden oder monumentalen Werken sich oft darum bemühten, den beanspruchten Zeitverlauf unkenntlich zu machen, erlebten wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie Künstler ihre Werke zu Dokumenten eines voran schreitenden, gelebten Lebens machten. Zwei der prominentesten Vertreter dieser Schule sind Roman Opalka und On Kawara. Opalka schreibt sich sozusagen zählend durch sein Leben, füllt Leinwände mit Zahlenkolonnen und läßt dabei allmählich die Farbe heller werden, so daß am Ende das monochrome Bild mit nahezu unsichtbaren Zahlreihen steht. Und On Kawara versichert sich (und seine Umgebung) seiner Existenz, indem er Telegramme und Postkarten verschickt oder Bilder mit dem Datum des Tages malt.
Rene´ Block, der seit 1998 die Kunsthalle Fridericianum neu profiliert hat („Echolot“), war es gelungen, unter dem Titel „Chronos & Kairos“ (Chronos steht für den Zeitverlauf, Kairos für den rechten Augenblick) Werke von rund 70 zeitgenössischen Künstlern zusammenzutragen, die die unterschiedlichsten Zeitaspekte spiegelten und zugleich ein repräsentatives Panorama der Kunst der letzten vier Jahrzehnte bildeten. Dabei erfüllte Block auch seinen selbst gestellten Anspruch, Musik und bildende Kunst zusammenzuführen, da der Kern der Ausstellung aus Werken der Fluxus-Bewegung bestand: Die Künstler, die in den späten 50-er und in den 60-er Jahren begannen, sich vom fertigen, in sich abgeschlossenen Werk zu verabschieden und die künstlerische Gestaltung als einen in der Zeit verlaufenden Prozeß sichtbar zu machen, bedienten sich aller Mittel und erreichten ein Zusammenfließen von Sprache, Musik, Aktion und visueller Prägung. Und so dokumentierte die Ausstellung ein weiteres Mal, wie revolutionär und prägend die Kunst der 60-er und 70-er Jahre war und wie viele Impulse auf John Cage, Nam June Paik und Joseph Beuys zurückzuführen sind.
Alle entscheidenden Erkundungen waren in jener Zeit unternommen worden: Andy Warhol drehte 1964 seinen achtstündigen Realzeitfilm „Empire“ (das Empire State Buildung im Wandel des Tageslichts), On Kawara legte sein 20-bändiges Werk „One Million Years“ an, Paik schuf sein erstes Video-Multiple, bei dem sich eine Miniaturfassung von Rodins Denker sein eigenes Bild auf dem Monitor anschaut, und Cage hatte bereits 1952 sein dem Schweigen gewidmetes Musikstück „4’33“ komponiert. Überraschend bei der Wiederbegegnung mit diesen Arbeiten unter dem thematischen Aspekt war, dass sie immer noch aufregend und unverbraucht wirkten.
Wer als Besucher bereit war, über den jeweiligen Raum hinauszudenken, konnte spannende Konstellationen erleben – etwa zu den Dimensionen der Zeit: Draußen vor der Tür, auf dem Friedrichsplatz, stehen der erste und der letzte Baum von Beuys´ Projekt „7000 Eichen“. Diese Stadtskulptur, die auf das Wachstum angelegt ist und daher nie vollendet sein wird, läßt das allmähliche Voranschreiten der Zeit bewußt werden. Doch dieser Zeitraum schrumpft zu einem Nichts, wenn man einen Blick auf On Kawaras „One Million Years“ wirft und sieht, dass die Jahrhunderte, mit denen wir uns befassen, bequem auf eine Seite des voluminösen Werkes passen.
Die Ausstellung macht bewusst, dass erst das Ausbrechen aus den tradierten Kunstformen und die Einbeziehung anderer Disziplinen möglich machten, mit Hilfe eines Kunstwerkes die Dimensionen der Zeit zu erfahren beziehungsweise kritisch und ironisch zu unterlaufen. Befruchtend wirkte da vor allem die Verknüpfung von Sprache und Bild, wobei Protagonisten der konkreten Poesie vielversprechende Wege wiesen. Gerhard Rühm beispielsweise schuf ein kleines Relief, das die drei Zustände der Zeit auf einen einfachen Nenner bringt: Von links liest man das Wort „eben“, aus gerader Richtung sieht man das Wort „nun“ und rechts „bald“. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewinnen hier sprachliche und auch räumliche Gestalt. Aber wann ist nun, also der rechte Augenblick? Wenn man Robert Filliou glauben will, gibt es diesen Zeitpunkt nie. Er hat eine Arbeit geschaffen, die unumstößlich verkündet, dass man immer zu spät oder zu früh komme; dabei spielt er verschmitzt auf die Museumswelt an: An der Wand lehnt neben einem Eimer ein Schrubber, an dem das Schild mit der Aufschrift hängt „Bin in 10 Minuten zurück – Mona Lisa“.
Es ist aber keineswegs nur die Phalanx der Fluxus-Künstler, die das Zeit-Thema durchgespielt hat (obwohl die natürlich prägend wirkte). Rene´ Block hat den Kreis der Eingeladenen bis in die Gegenwart erweitert und auf diese Weise dokumentiert, welche vielfältigen Möglichkeiten immer noch in dem Thema stecken. Ein ganz zentrales Medium dafür ist die Videotechnik. Von Sam Taylor-Wood stammt die Arbeit, die vom Umgang mit der Zeit wortlos erzählt: Auf drei Projektionswänden eines Raumes sieht man Menschen, denen Wagner-Musik vorgespielt wird, ohne dass sie sich bewusst auf das Zuhören eingelassen haben. Also wird man Zeuge, wie sie die Zeit totschlagen. Christian Jankowski hingegen nutzte das Video als fiktive Zeitmaschine: Er lässt Uwe Schneede als kleinen Jungen durch die Hamburger Kunsthalle wandeln und ihn seine nun altklug wirkenden Erläuterungen geben. Eine stille, aber großartige Raum-Zeit-Erfahrung bescherte Ayse Erkmen, die mit „9’45“ eine sich fast unmerklich vorwärts und rückwärts bewegende Wand installieren ließ.
Die Zeit wird in der Hand der Künstler zu einer beliebig formbaren Knetmasse. Der Schwergewicht der Ausstellung lag allerdings bei den Arbeiten, die eher die Verläufe nachvollziehbar machten. Dazu gehörte als repräsentativer Beitrag auch Hanne Darbovens wand- und raumfüllende Blattfolge „Urzeit/Uhrzeit“. Als einzigen Schwachpunkt musste man in diesem Zusammenhang vermerken, dass Roman Opalka, der sich durch die Zeit schreibt, nur mit einem kleinen, leicht zu übersehenden Bild vertreten war.
Unmerklich wie der Zeitverlauf sind zuweilen die Eingriffe der Künstler. Auf heitere und gelassene Weise machte das Maria Eichhorn bewusst. Sie hatte mit der Ausstellungsleitung verabredet, dass jeden Tag die Öffnungszeit um 20 Minuten ausgedehnt werden konnte falls zum Schließungstermin noch Besucher da waren und sie die Verlängerung nutzen wollten. Flexibler und unauffälliger kann sich Kunst nicht (als freies Angebot) geben. Und eben Eichhorns Beitrag ließ klar werden, daß Block an so gut wie jede Spielart der Zeitkunst gedacht hatte.

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