Doch eine Besucherschule – als Film

Nun gibt es sie doch – Bazon Brocks Besucherschule zur documenta 9. Allerdings ist sie nicht innerhalb der Ausstellung zu erleben, sondern nur als Fernsehfilm oder als Video-Aufzeichnung.

KASSEL . Um den provozierenden Stil des Kunst- und Kommunikations-Professors Bazon Brock aufzunehmen, gleich die entscheidende Frage vorweg: Warum überhaupt hat er den Kraftakt auf sich genommen, innerhalb weniger Tage den Ein-Stunden-Film zu inszenieren, wenn er der Meinung ist, daß auf der Kasseler documenta 9 nur kleine Kunststücke zu sehen seien und keine große Kunst? Warum die einfallsreichen Wortkaskaden zu den Ausstellungsstücken, wenn der beredte Führer am Ende seines Rundganges schweigend sich auf den Boden beugt, um mit einer Art Todesstarre seinen endgültigen Kommentar zur documenta 9 abzugeben?

Hat man da etwas falsch verstanden, oder ist dieser Schluß nur aufgesetzt? Denn vier Fünftel des Films „Der Körper des Kunstbetrachters auf der documenta 9“ stellen derart anschaulich und beziehungsreich documenta-Werke vor, daß die Ausstellung als eine Attraktion erscheint. Der Film löst den Widerspruch nicht auf. Vielleicht ist es Brock so gegangen wie jenen Kritikern (die er eingangs in dem Film zitiert), die fasziniert waren von positiven und negativen Energien der Ausstellung, die sich aber gegen diese Faszination wehrten.

Wenn am Mittwoch, 15. Juli, 21.50 Uhr, der Brock-Film vom Privatsender Premiere ausgestrahlt wird (von Satelliten- und Kabelkunden unverschlüsseIt zu empfangen), dann kann es aber leicht passieren, daß etliche Zuschauer bald wieder abschalten: Bazon Brock, ein Meister der Kunstvermittlung mit auch großen schauspielenschen Fähigkeiten, hat nämlich einen recht sperrigen, eher abstrakten Einstieg in seine documenta-Betrachtung gewählt. Und danach führt er ein wenig in die Irre. Zwar beschreibt er völlig zu Recht das Phänomen, daß erstaunlich viele Künstler in ihren Beiträgen die Körper-Intimitäten und -Ausscheidungen thematisieren, doch er spielt das derart intensiv aus, daß man minutenlang meint, die documenta sei eine Porno- und Toilettenschau.

Natürlich ist Brock ein Könner. Er versteht es blendend, von den einzelnen Werken vielschichtige Bezüge zum Leben und zur Kunstgeschichte herzustellen. Er beschreibt und interpretiert die Bilder und Installationen nicht, sondern erhellt sie durch Gedankenketten und Geschichten. Sehr schön ist auch, wie er Hoets Bild vom Körper, der in der documenta herausgefordert werde, bei seinem documenta-Rundgang einsetzt. Manchmal liegt er quer zur Ausstellungswirklichkeit, doch solche Widersprüche machen den Film spannend. Uber weite Strecken beschert der Film jenen mitreißenden Bazon Brock, wie man ihn seit seiner Besucherschule zur Kassseler documenta 4 und 5 (1968 und 1972) kennt. Ein Mann, der Kunst verlebendigt. Der Film läßt aber auch erkennen, daß er mit heißer Nadel genäht wurde – mehrere Sequenzen leiden unter schIechter Tonqualität.

Ursprünglich hatte Brock mit einer täglichen Besucherschule in die docurnenta 9 einziehen wollen. Mit Hilfe von Bertelsmann wollte er im tif seine Besucherschule als kleines Schauspiel inszenieren. Die notwendigen 250 000 Mark hätte Bertelsmann aber nur ausgeben wollen, wenn der Verlag gleichzeitig eine Broschüre dazu hätte produzieren können. Eine solche Konkurrenzveröffentlichung wollte die documenta jedoch nicht mit Blick auf den (bislang völlig unzureichenden) Kurzführer. So entschied sich Bertelsmann, auf die Live-Besucherschule zu verzichten und den Film zu drehen, der auch als „Video-Katalog“ angeboten werden soll.

10. 7. 7. 1992

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