Das Lied von der Erde

Museum Fridericianum, 10. Juni bis 3. Oktober

Über zwei Jahrzehnte hinweg wurde anlässlich internationaler Ausstellungen die Diskussion in Europa von der Frage beherrscht, inwieweit künstlerische Arbeiten aus Afrika, Asien und Teilen Südamerikas in den westlichen Kontext zu stellen seien. Obwohl Jan Hoet für die documenta IX die Welt bereiste und auch einige Künstler aus den Ländern mitbrachte, die als exotisch galten, vertrat er die These, im Grunde seien die zwei Welten nicht dialogfähig. Auch Catherine David vertrat fünf Jahre später einen vergleichbaren Standpunkt. Er manifestierte sich dadurch, dass sie zwar Länder Afrikas und China berücksichtigte, aber von dort keine bildenden Künstler holte, sondern Schriftsteller, Philosophen und andere Intellektuelle für ihren permanenten Diskurs „100 Tage – 100 Gäste“ engagierte. Erst Harald Szeemann gab 1999 bei der Biennale von Venedig die alte eurozentrische Position auf und stellte gleich dutzendweise chinesische Künstler vor. Aber auch diese radikale Kehrtwende hatte ihre großen Schwächen.

Der Berliner Rene´ Block, der derzeit die Kunsthalle im Kasseler Museum Fridericianum leitet, geht souverän einen anderen Weg Er hat den Vorteil, nicht nur in Deutschland und Europa als Kurator gearbeitet zu haben. Als zeitweiliger Leiter der Biennalen in Sydney und Istanbul sowie als Mitarbeiter der Biennale von Kwangju lernte er, die Westkunstszene von außen zu betrachten. Das bedeutete, dass er sich nicht bloß auf andere Namen und Haltungen einlassen musste, sondern dass er erfuhr, auf welche Weise die Künstler aus Arabien, Afrika, Australien und Asien eigene kulturelle Erfahrungen und künstlerische Vorstellungen mit westlichen Techniken verbanden. Während bei uns die Dialogfähigkeit noch problematisiert wurde, praktizierte Block von Sydney und Istanbul (und nicht einmal als erster) aus bereits den Dialog.

Und wenn er vor über zwei Jahren in Kassel mit der Ausstellung „Echolot“ begann, über das Wechselverhältnis von Peripherie und Zentrum nachzudenken, dann wissen wir heute, dass dies ein Mittel war, um sein Publikum einzustimmen. Im Grunde wusste er natürlich, dass die behauptete Peripherie in dem Sinne gar nicht mehr existiert und dass das Zentrum nur eine Fiktion ist, an die wir uns klammern. Den Beleg dafür hat er jetzt mit der Ausstellung „Das Lied von der Erde“ geliefert, in der Arbeiten von 29 Künstlern aus acht Orten beziehungsweise Ländern zu sehen sind, in denen Biennalen stattfinden. Diese Künstler stehen nicht für das Konzept der jeweiligen Biennale, sondern sie repräsentieren mit ihren Werken Situationen, in denen es dank der Biennalen Austausch gibt und in denen Werkstattcharakter herrscht. Hinter der Idee stand zudem der kuratorische Trick, dass mit Hilfe des Biennale-Begriffs die Fördermittel der Entsenderländer zu aktivieren sind, und der Vorsatz, durch eine solche Ausstellung in einem Kongress den Dialog der Biennalen in Gang zu setzen – was auch gelungen ist.

Wer durch die Ausstellung geht und kulturelle Unterschiede herauszufinden versucht oder Brüche aufspüren will, läuft fehl. Diese Ausstellung ist genauso facettenreich und homogen wie jede andere Gruppenausstellungen. Das heißt: Der Weltkunstdialog funktioniert reibungslos; möglicherweise wirken Haltungen der (traditionellen) Avantgarde von vor 20, 30 Jahren, wie sie etwa ein George Brecht vertritt, in diesem Zusammenhang fremder als die Positionen, die Moshekwa Langa (Südafrika) mit seiner Rauminstallationen aus Wörtern und bunten Garnen oder Patricia Piccinini (Australien) mit ihren absurd-bedrohlichen Bildern vertreten.

Übernimmt man die Meinung, die Moderne sei vor geraumer Zeit an ihr Ende gekommen, auch habe die Kunst die Phase der Postmoderne überstanden, dann hat Brock vornehmlich solche Künstler versammelt, die mit den Mitteln der Kunst und des Raumes spielen und die versuchen, die Ausdrucksformen neu zu ordnen. Einer der bewährtesten Künstler ist der Franzose Daniel Buren, der unzählige Räume durch seine farbigen Streifen-Bahnen neu definiert hat. Nachdem Buren sich bereits zur documenta 7 in einer Glasarbeit mit den Fenstern des Fridericianums auseinander gesetzt hatte, schuf er für diese Austellung eine seiner stringentesten Arbeiten überhaupt: In der Erdgeschoss-Rotunde fügte er in die Fenster nach dem Schachbrettmuster farbige Gläser in den Grundfarben Rot, Gelb, Blau ein, um dann im Raum selbst den Halbkreis aus Fenstern in Originalgröße zu duplizieren. Allerdings kehrte er das Prinzip um und ließ die vorher farblosen Felder bunt (und umgekehrt) werden. Keine zweite Arbeit geht so aktiv und gut mit dem Raum um.

Die Rauminstallationen dominieren die Ausstellung Zum Besten gehört wieder einmal, was in den drei kleinen Räumen des Zwehrenturms arrangiert wurde. Der Kubaner Kcho hat 18 Ruder gebündelt und lässt sie an einem Seil von der Decke hängen. Er projiziert damit ein Bild, das Ruhe ausstrahlt und trotzdem das Ende aller Hoffnungen auf Veränderung signalisiert. Noch eine Spur bedrückender ist der Raum mit Möbeln und zerbrochenen Gläsern von Fernanda Gomes. Man wird auf die Spur einer Geschichte gelenkt, die sich dann aber nicht entwickelt. Heiter hingegen ist der Kreis aus zehn Monitoren, die parallel sehen und hören lassen, wie zehn Menschen einen englischen Popsong singen, obwohl sie eigentlich kein Englisch können. Dieses „Karaoke“ ist ein Sympton einer Zeit, in der alle eine Sprache sprechen und ihren öffentlichen medialen Auftritt haben wollen, obwohl sie nicht dazu befähigt sind.

Eines der traditionellsten Themen der Malerei ist die Darstellung der vier Jahreszeiten oder Lebensalter. Young-Jin Kim hat dieses Thema auf eine faszinierende Weise in unsere Welt übertragen: Auf die vier Wände eines Raumes werden Filme von schaukelnden Frauen der vier Lebensalter projiziert. Die Projektoren selbst sind auf einer in der Raummitte hängenden Schaukel befestigt, so dass sich die Schaukelbewegungen auf die Videofilme übertragen und somit die Frauen nie einander näher kommen. Es gibt, so hat man den Eindruck, kaum noch Sprachbarrieren. Und die Lust am Geschichten-Erzählen ist groß, aber man hat das Gefühl, dass die Zeit der Romane (Panoramen) vorbei ist und die konzentrierte Lyrik den Ton angibt. Die schon erwähnte Rauminstallation von Langa mag als Beleg dafür dienen: In großen Lettern spricht er auf der Wand von den „Hürden meiner Jugend“ als einem angekündigten Roman. Doch die bunten Garne auf dem Boden und an den Wänden wirken wie hingeworfene Buchstaben. Aus den Fäden ist weder ein Teppich noch ein Bild gewebt worden. Auch die wenigen Überreste an überkommener Bildgestaltung (Malerei) verweigern das fertige Bild. Die Koreanerin Soo-Kyung Lee hat eine Aktions-Installation nach Kassel gebracht, deren Mittelpunkt ein Landschaftsbild ist, das so wirkt, als sei es auseinander gedehnt worden und als habe die Malerei das Bild an den Rand gedrängt. Und Peter Tyndall kehrt die Verhältnisse um – das dekorative Muster erobert die Bildfläche, während die wirklichen Bildvorstellungen auf der Rückseite der Leinwand notiert werden.

Richtig erzählt wird nur noch in der Fotografie und im Film (Video): Rosemary Laings Breitwandfotos beschwören den alten Traum vom Fliegen. Und William Kentridge fasziniert erneut mit seinem gezeichneten Animationsfilm, in dem die unendliche Metamorphose der Bilder triumphiert. „Das Lied von der Erde“ erweist sich als eine bereichernde Ausstellung, deren Auswahl-Kriterien in dem Biennalen-Bezug liegt. Ansonsten geht beim Rundgang durch die Räume der Biennale-Gedanke schnell verloren. Es treten die Künstlerpersönlichkeiten hervor. Und es wird deutlich, dass der Welt umspannende Dialog der Künstler kaum noch Regionen ausschließt. Wer nach spezifischen kulturellen Ausprägungen sucht, wird sie gelegentlich in den gedanklichen Ansätzen und Materialien finden. In den Haltungen und künstlerischen Strategien sind sie nicht mehr auszumachen.

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