Eine Ausstellung stellt sich selbst aus

Michael Glasmeiers Projekt 50 Jahre documenta

Kunstausstellungen dienen, wenn sie gut sind, der Kunst. Wenn sie aber über ihr eigentliches Ereignis hinaus wirken und Maßstäbe setzen, werden sie selbst zu Objekten der Kunstbetrachtung und des Ausstellungsbetriebes. Der documenta passiert das nun zum dritten Mal, dass ihr Erscheinungsbild und ihre Leistungen in einer Ausstellung reflektiert werden. Das 50-jährige Bestehen der documenta bietet dafür einen guten Anlass.
Wie aber stellt man Ausstellungen aus, die Geschichte sind und allein auf Grund des Materials nicht einmal annähernd wiederholt oder rekonstruiert werden können? Den für Deutschland bislang spannendsten Versuch unternahm 1988 die Berlinische Galerie mit dem Projekt „Stationen der Moderne“. Im Gropius-Bau wurden 20 Ausstellungen zitiert und ansatzweise rekonstruiert, die den widersprüchlichen Weg dieses Landes in die Moderne markierten. Die „Brücke“ und „Der Blaue Reiter“ bildeten den Anfang, am Ende stand Gerry Schums Fernsehgalerie von 1969. Dazwischen fand man als 16. Station die documenta II von 1959.
Die Ausstellung von 1959 wurde als Teil für das Ganze genommen. Nach dem Verständnis der Macher hatte man sich gerade für die documenta II entschieden, weil sie in ihrer Tendenz so prägnant und konsequent gewesen sei. Möglicherweise hing die Entscheidung aber auch damit zusammen, dass einige der Bilder und Skulpturen leichter erreichbar waren als aus einer anderen documenta. Jedenfalls wurde in der Berliner Ausstellung zum Kulturhauptstadtjahr 1988 der documenta eine zentrale Rolle zugewiesen. Außerhalb der chronologisch gegliederten Raumabfolge war die Miniatur-documenta im Lichthof des Gropius-Baus inszeniert worden. Dabei hatte man sogar versucht, dem Geist Bodes nahe zu kommen, indem man weiß gestrichene Wände errichtet hatte, vor denen die Arbeiten präsentiert wurden. Dieser Schau gelang es, einen konzentrierten Einblick in das Wesen und die Tendenz der zweiten documenta zu vermitteln.
Lässt man einmal außer Betracht, dass Veit Loers 1993 das Werk von Joseph Beuys im Licht seiner documenta-Arbeiten im Kasseler Fridericianum spiegelte und damit ebenfalls einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Kasseler Ausstellung lieferte, dann wurde 2001 die documenta zum zweiten Mal selbst Ausstellungsgegenstand. In diesem Fall ging es unter dem Titel „Wiedervorlage d5“ um eine Befragung und Würdigung der Ausstellung von 1972. Zwei unterschiedliche Motive hatten das Projekt befördert. Zum einen stand die zum Mythos gewordene Ausstellung selbst zur Diskussion. Sie hatte ihren Macher Harald Szeemann erst in Verruf und dann zu höchsten Ehren gebracht. Zum anderen sollte einmal anschaulich gemacht werden, dass das documenta Archiv ein Vorratslager für Ideen und Projekte ist, das man nur nutzen muss.
Vernünftigerweise hatte man gar nicht erst daran gedacht, die Ausstellung in Teilen zu rekonstruieren. In der Zusammenarbeit von Karin Stengel und Roland Nachtigäller wurde vielmehr die Idee entwickelt, die Archivmaterialien dadurch zu vitalisieren, dass man jüngere Künstler einlud, die mit einer Installation auf die Dokumente künstlerisch reagieren und damit einzelne Phänomene der documenta 5 kommentieren sollten. Damit wurde aus der Gegenwart ein neuer, frischer Zugang zu einer Ausstellung eröffnet, die nicht nur für Kassel einen Wendepunkt markiert.
Prof. Michael Glasmeier will für seine für den Herbat 2005 (1. September bis 20. November) geplante Ausstellung „50 Jahre documenta“ diesen Gestaltungsansatz aufgreifen: Der eine Kern der Ausstellung soll eine Abfolge von elf Räumen (Kammern) werden, in denen jeweils Materialien zu einer documenta ausgebreitet und aufbereitet werden. Jüngere Künstler sollen in wechselnden Medien (Film, Zeichnung, Malerei, Installation) das Material und damit die jeweilige documenta kommentieren beziehungsweise anschaulich machen. Glasmeier denkt deshalb an eine Folge in sich abgeschlossener Räume, weil jede documenta im Prinzip ein Neuanfang war und die Geschichte der Kasseler Ausstellung voller Brüche und Widersprüche ist. Eingeladen wurden zu dem Projekt: Friederike Feldmann, Kai Vöckler, Katrin von Maltzahn, Katharina Meldner, Sabine Groß, William Engelen, Tilo Schulz, Andreas Seltzer/Heike Vogler, Jonathan Monk, Alexander Roob, Heidi Specker.
„archive in motion“ nennt Glasmeier diesen Teil seiner Ausstellung. Im Titel schwingt mit, dass nicht nur leblose Zeugnisse präsentiert werden sollen, sondern die künstlerischen Interventionen die dokumentarischen Materialien verlebendigen. Hinter dem Titel verbirgt sich noch eine zweite Idee: Das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) will diesen Teil der Ausstellung nach der Premiere im Fridericianum unter seine Fittiche nehmen und auf Reisen schicken. Erste Station soll im Jahre 2006 Brüssel sein. Dann soll es möglicherweise über Spanien und Warschau Richtung Asien gehen. Dr. Ursula Zeller sieht in der documenta, wie sie für das ifa in einer Pressekonferenz sagte, ein Modell: Die Ausstellung habe international Maßstäbe gesetzt und mit ihrem Erfolg habe sie die Stadt Kassel verändert. So wird die Wanderausstellung mehr sein als ein Werbeprojekt für die documenta-Idee.
Den anderen Kern versteht Glasmeier als einen Versuch, sich der documenta als einem sinnlichen Abenteuer anzunähern. Der von der Stadt Kassel und dem Land Hessen gemeinsam getragene Etat in Höhe von knapp einer Million Euro (dazu kommen noch Mittel der Kulturstiftung des Bundes) ist zwar für Fridericianums-Verhältnisse üppig, erlaubt aber dennoch keine riesigen Sprünge. Deshalb kann auch Glasmeier nicht daran denken, Werke von Picasso oder Rauschenberg nach Kassel zu holen. Also versucht er, aus der Not eine Tugend zu machen. Das Schlüsselwort dafür heißt „Diskrete Energien“. Glasmeier will die Hauptstraßen der Kunst verlassen und vor allem die Künstler und Werke präsentieren, die nicht unbedingt das Bild von der Kunstgeschichte reproduzieren, das gebräuchlich geworden ist. Glasmeier denkt an Positionen, die seinerzeit übersehen wurden, er denkt an Nebenwege und an Techniken, die weniger beachtet wurden.
Deutlich wird das am Beispiel der documenta 6, die als Mediendocumenta in die Geschichte einging und die neben der Malerei und Skulptur auch Zeichnungen, Fotos, Videos und Künstlerbücher präsentierte. Die Künstlerbücher etwa, aber auch die Videos wurden meist nur beiläufig gewürdigt. Aus heutiger sind das jedoch Medien, die sehr gut die damaligen Positionen illustrieren können. Die Wunschliste, die Glasmeier zur Pressekonferenz vorstellte, klingt viel versprechend. Sie reicht von Joseph Beuys über Christian Boltanski, Hans Haacke, Bruce Nauman und Reiner Ruthenbeck bis zu Wols. Sollte es Glasmeier glücken, mindest zwei Drittel der Künstlernamen mit den dazu gehörigen Werken in Kassel zu versammeln, erwartet die Besucher eine Ausstellung, die selbst wieder zur Wegmarke werden kann.
Manfred Schneckenburger hat einmal geschrieben, Bodes Versuch, Maler wie Fritz Winter oder Ernst Wilhelm Nay durch entsprechende Platzierung in der documenta zu international führenden Künstlern zu machen, sei misslungen. So hatte Bode 1955 ein Gemälde Winters einem Bild von Picasso gleichrangig gegenübergestellt, ohne dass künftig Winter in einem Atemzug mit Picasso genannt wurde. Glasmeiers Projekt nun aber könnte Winter zu einem späten kleinen Triumph verhelfen – er soll dabei sein, nicht aber Picasso.
Arnold Bode war es bei der ersten documenta ursprünglich um die Spiegelung der gesamten Kultur gegangen. Auch daran soll das Jubiläumsprojekt erinnern. So wird an die Wiederaufführung eines Symphoniekonzerts von 1955 im Staatstheater gedacht. Außerdem will der Filmladen das für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Filmprogramm der documenta rekonstruieren.
Die documenta soll aber nicht nur gefeiert, sondern auch kritisch beleuchtet werden. Ähnlich wie zur Kommentierung der Ausstellungsgeschichte junge Künstler eingeladen werden, sollen im Katalog junge Kunsthistoriker die Gelegenheit zur Einordnung und Bewertung erhalten. Auf diese Weise könnte vermieden werden, dass die alten Legenden um neue Nuancen bereichert werden. Dem gleichen Ziel der Aufarbeitung dient eine Tagung, die für den 27. bis 30. Oktober in der Evangelischen Akademie Hofgeismar geplant wird. Aus der Reflexion und Kritik der Ausstellung sollen, so hofft es Glasmeier, Ansätze für neue Perspektiven zur Planung von Ausstellungen entwickelt werden.

23. 2. 2005

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