600 000 Besucher als Ziel

Zur Halbzeit zog die Kasseler documenta Erfolgs-Bilanz: Bisher kamen 38 Prozent mehr Besucher als beim vorigen Mal. Die 600 000-Marke als Ziel scheint realistisch.

Deutlicher konnte die Sprache der Bilder nicht sein: Auf einem Roulette-Tisch der Spielbank im Kasseler Schloßhotel hatten Rundfunk- und Fernsehreporter ihre Mikrofone aufgebaut, um einzufangen, was documenta-Leiter Jan Hoet, Kassels Oberbürgermeister Wolfram Bremeier (documenta-Aufsichtsratsvorsitzender) und Geschäftsführer Alexander Farenholtz als Halbzeitbilanz zur documenta 9 vorzutragen hatten. Es hängt alles so sehr am Gelde, daß auch die Kunst allenthalben knietiefe Verbeugungen nach allen Seiten machen muß. Doch diese Verbeugung war ein wenig zu tief geraten, denn die räumlichen Bedingungen waren alles andere als einladend für eine Pressekonferenz, in der es um eine Einschätzung der Ausstellungs-Resonanz gehen sollte.

Als Veranstaltungsort ausgewählt worden war die Spielbank, weil sie als erste den kompletten Satz der zehn Mappen umfassenden documenta-Edition (eine Grafik-Mappe kostet 4500 Mark) gekauft und für die Dauer der documenta ausgestellt hat. So kann dort die komplette Edition besichtigt werden und so können dort Kunst- und Spielsucht gegenseitig befruchtet werden.

Ums Geld ging es auch in den Ausführungen der Geschäftsleitung und einzelnen Fragen. Aufgrund ihres Besuchererfolges wird die documenta 9 kein Defizit einfahren: Bis Dienstagabend wurden 259.240 Besucher gezählt, das sind rund 38 Prozent mehr als 1987. Und Geschäftsführer Farenholtz ist zuversichtlich, bei den Besucherzahlen die 600 000-Marke zu erreichen. Daß dieser hohe Anstieg dennoch nicht wesentlich mehr Geld in die Kassen einbringt, liegt daran, daß mehr Besucher als erwartet die kostengünstigen Dauer- und Gruppenkarten nutzen. Deshalb ist vorerst nicht – trotz der zeitweiligen Besucherschlangen – an eine Ausweitung der Öffnungszeiten (10.30 – 19.30 Uhr) gedacht.

Kehrseite des Andrangs: Es entstanden schon etliche Schäden, anderes wurde entwendet. Allein vier Wachshände von Jan Fabre nahmen Kunstliebhaber mit.

Reichlich geklingelt hat es schon in den Kassen der Galerien: Jan Hoet konnte rund 20 documenta-Kunstwerke benennen, die bereits von Museen oder Privatsammlern aus der Ausstellung angekauft worden sind. Er selbst hat sich für sein Genter Museum Ilya Kabakovs Toiletten-Wohnhaus gesichert. Für Kassel wurde vorerst Jonathan Borofskys populärer Himmelsstürmer (,‚Man walking to the sky“) reserviert; die Ankaufsentscheidung (635 000 Mark sind aufzubringen, ein Standort ist zu finden) müsse aber in absehbarer Zeit fallen. Für die Neue Galerie in Kassel, so ließ Hoet durchblicken, sollen vorrangig Installationen erworben werden.

Auch Hoet zog für sich eine positive Bilanz. Nachdrücklich bekannte er sich zu dem Konzept, eine Großausstellung ohne eigentliches Zentrum zu schaffen, dafür aber den Besucher und seine Erfahrung in den Mittelpunkt zu rücken. Zufrieden blickt er auf die documenta-Berichte, die meterweise sein Büro erreichen. Dabei hat ihn die heftige Kritik in Teilen der deutschen Kritik nicht unberührt gelassen. Nach der documenta 9 will er mit seinem Team die Kritiken seinerseits kritisch auswerten und nach den Motiven für Zustimmung und Ablehnung fragen.

HNA 30. 7. 1992

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